"In the absence of intimidation, creativity will flourish"
G.Ginn

Samstag, 31. Dezember 2016

Frieren in Venedig

Ein sentimentales Silvesterstück, das ich mal geschrieben habe, in einer Live-Version vom September 1991, im Adlerkeller Tussenhausen. Aufgenommen von jemandem mit Walkman in der ersten Reihe.

Die Henhunters spielen hier mit Lois an der Trompete, Pobsl an der Gitarre und mir an Gitarre und Gesang.


Guten Rutsch und ein gutes Neues!

Dienstag, 27. Dezember 2016

Dalai Lama

Vor 66 Jahren wurde Alex Chilton geboren, leider ist er schon 2010 gestorben. Wer etwas mehr über seine Musik erfahren will, findet hier ein bisschen etwas zu lesen. Zum Geburtstag möchte ich aber ein Lied aus den Achtzigern präsentieren, das mich immer wieder zum Lachen bringt. Ein wunderbares Lied über den Dalai Lama.



Freitag, 23. Dezember 2016

Verbrechen auf Schallplatte: Feiertagsausgabe

Michali hat mich letzthin auf ein Lied von Brigitte Bardot aufmerksam gemacht, das er für die Rubrik Verbrechen auf Schallplatte geeignet hält (ich werde mich hüten, hier mit meinem älteren Bruder zu streiten). Der Youtube-Hinweis hat mich auf eine Reise in die französische Popmusik der Sechziger Jahre geführt, die zu einigen sehr merkwürdigen Stationen geführt hat. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass die Familie vielleicht doch lieber Freejazz hören würde.

Brigitte Bardot als Schauspielerin kann ich nicht beurteilen, da ich von ihren Filmen, glaube ich, nur "Petroleummiezen" gesehen habe, der mir als Achtjährigem allerdings sehr gut gefallen hat. Als Sängerin ist sie zumindest etwas eigenartig. "Harley Davidson", dessen Kenntnis ich Michali verdanke, ist jetzt harmonisch nicht wirklich anspruchsvoll, hat aber in seiner Stupidität durchaus hypnotische Qualitäten. Der Text besteht aus Rocker-Platitüden, die einen gewissen Reiz dadurch gewinnen, dass sie von der Bardot gesungen werden. Quoi qu'il en soit: Wer gerne sieht, wie Frauen in Lederminirock auf Motorräder steigen oder sich an dekorativ von der Decke herunterhängende Eisenketten klammern, wird hier auf jeden Fall wunderbar bedient.




Das nächste Lied ist schon etwas schwieriger, weil man kaum entscheiden kann, ob es furchtbar oder genial ist. Da diesmal auch Serge Gainsbourg mitmacht, muss man wohl für genial votieren. Interessant ist, dass - ähnlich wie bei "Harley Davidson"  - ein analoger Backing track läuft, der einem heute wie ein sich wiederholendes Sample vorkommt. Gar nicht unflott. Die Bardot gefällt sich wieder in merkwürdigen Posen, hier mit einer Maschinenpistole. Ich schaue mir keine Tarantino-Filme an, stelle mir aber die Ästhetik etwa so vor wie in dem folgenden Filmchen:



Das ist jetzt aber schon fast zu gut für diese Rubrik, deswegen hier einen anderen Fund, den ich über die Youtube-Vorschläge gemacht habe. France Gall hat offenbar Ende der Sechziger einige Lieder auf deutsch aufgenommen. "Computer Nr. 3" ist dabei doof und rätselhaft und deswegen hier bestens geeignet (auch wenn es schwerfällt: Unbedingt bis zum Refrain hören!).



Wenn man diese kleine Reise mitgemacht hat, hat man für die nächsten Monate lauter Vorschläge bei Youtube, die wirklich bewusstseinserweiterend sind.


Sonntag, 18. Dezember 2016

Hohes Pack und niedre Herren

Letzte Woche war ich mit Frau Ackerbau bei Will Varley, ein schönes Konzert, über das ich bei Gelegenheit auch noch einmal mehr schreiben werde. Bei dieser Rückkehr der ernsthaften Liedermacher fielen mir auch wieder alle möglichen deutschen Vorbilder ein. Will Varley ist ja eine Mischung aus Reinhard Mey und Billy Bragg, die wie Fredl Fesl mit Locken aussieht. Fredl Fesl habe ich ja als Kind viel und gern gehört. Auch er hat - neben den niederbayrischen Spässchen, die er ansonsten so macht und die nicht alle gut gealtert sind - durchaus ernsthafte Seiten, zum Beispiel in diesem Lied. Schön und ergreifend. Müsste eigentlich den hedonistischen Nihilisten, die hier regelmäßig lesen, gut gefallen.

(Das Lied beginnt etwa bei 1:50, vorher noch das übliche Geplapper vor Beginn.)

(Ergänzung 22.12.: Roswitha weist in den Kommentaren darauf hin, dass es sich um ein altes Lied des schwedischen Dichters Bellman handelt; die deutsche Übersetzung ist wohl von Zuckmayer, daneben gibt es noch andere Versionen, wie z.B. von Hannes Wader.)

Sonntag, 11. Dezember 2016

Wer wird herrschen, wenn die Regierungen fallen?

Eine kleine Zeile aus dem schönen Lied der Ruts, Secret Soldiers. Who's gonna rule when the governments fall? Der Titel "Secret Soldiers" gibt schon einen Hinweis darauf, dass es wahrscheinlich nicht die friedlichen Kooperativen der liberitären Landkommunen wären (ich weiß, es gibt da auch die Gegenauffassung). Für mich immer eine Erinnerung daran, dass man sich, bevor man sich etwas weg wünscht, erst einmal überlegen muss, was nachkommt. G.K. Chesterton hat die klassische Formulierung dieses Prinzips im Paradox von Chestertons Zaun: Einen Zaun sollte man erst dann einreißen, wenn man genau verstanden hat, warum er errichtet wurde.

Es geht natürlich wieder um die Briten, was macht der Brexit denn so?

Machen wir's kurz: Es passiert einiges, aber schön ist das alles nicht. Theresa May hat immer noch das Problem, dass sie nicht konkreter mit ihren Plänen werden kann, weil sie ansonsten entweder die Wirtschaft oder ihre Brexiteer-Parteifreunde am Hals hat. May behilft sich damit, dass sie sagt, sie dürfe ihren Plan gar nicht dem Parlament oder der Öffentlichkeit mitteilen, weil das UK ansonsten in den Verhandlungen im Nachteil sei. Als Ersatz gibt es dafür Sprüche wie "Brexit means Brexit" und - seit neuestem "Our Brexit will be red, white and blue". Es ist natürlich Schwachsinn, dass man Verhandlungspositionen geheim halten muss - irgendwann muss man dem Gegenüber schon offenbaren, was man eigentlich will. Das ganze UK schwelgt aber in Poker-Vergleichen (man darf seine Karten nicht zeigen!) und lässt sich's gefallen. Dahinter versteckt ist natürlich immer noch die hirnverbrannte Johnson`sche Vorstellung, man könne eigentlich die ganzen Vorteile der EU in Anspruch nehmen, ohne die Verpflichtungen anzunehmen. Have our cake and eat it. They need us more than we need them. We are anti-pasto but definitely pro-secco. Daneben gibt es genügend Leute  (auch im Parlament), die der Auffassung sind, die EU brächte gar keine Vorteile.   Auch wenn das stimmte, sollte es einen nachdenklich stimmen, wenn man innerhalb von zwei Jahren eigene nationale Zoll- und Außenhandelskompetenzen aufbauen muss, die man seit über vierzig Jahren aufgegeben hat. Ganz abgesehen davon, dass man sehr schnell für die zahlreichen Brüsseler Behörden  eine nationale Instanz als Ersatz braucht, z.B. eine, die Medikamente zulässt. Der Verzicht auf Brüsseler Bürokratie bedeutet zunächst, dass man die Bürokratie national wieder aufbauen muss. Diese Diskussion wird aber gar nicht geführt. Ein Teil der Politik ist zu dämlich zu verstehen, was passiert, der andere weiß es recht gut, fürchtet sich aber vor dem Wahlvolk. Die traurige Wahrheit ist, dass eine Abkehr von Europa wahrscheinlich dazu führen würde, dass das UK vollständig abhängig von den USA wird.

Die bekannten Verhandlungslinien sind: Schluß mit der Freizügigkeit der EU-Bürger, keine Zahlungen mehr an die EU, keine Zuständigkeit europäischer Gerichte mehr, ausschließliche Kompetenz des britischen Parlaments. Daneben der bestmögliche Zugang zum europäischen Markt. Hört sich zunächst nett an, funktioniert aber aus verschiedenen Gründen nicht. Die Minister knicken auch an verschiedenen Stellen ein, Johnson will nicht ausschließen, dass es noch weiter Freizügigkeit geben könnte, Davis hält es für möglich, dass man auch noch weiterhin Zahlungen an Europa leistet und so weiter. Ich lese mir regelmäßig auch alles durch, was von den überzeugten Brexiteers kommt, da man ja nie ausschließen sollte, dass man den gegnerischen Standpunkt einfach nicht verstanden hat. Was da kommt, ist allerdings vollkommen illusorisch. Der Optimismus der Brexit-Anhänger ist derzeit der Optimismus eines Mannes, der sich von seiner Frau trennen will und darauf hofft, danach Affären mit Supermodels zu haben. Mag sein, dass es in Erfüllung geht, eine Strategie sieht anders aus. Hope is not a strategy.

Das eigentlich Erschreckende ist aber der politische Diskurs. Brexit ist angetreten, um die nationale Souveränität wieder zu sichern. Über britische Angelegenheiten sollte wieder das britische Parlament und die britischen Gerichte das letzte Wort haben, keine Institutionen in Brüssel oder Luxemburg. Auch wenn ich den Standpunkt nicht teile, halte ich das zumindest für eine diskussionswürdige Position. Was passierte aber in der Zwischenzeit? Verschiedene Bürger haben eine Klage eingereicht, mit der festgestellt werden soll, dass nicht die Regierung einfach den Austritt aus der EU erklären kann, sondern dass es dazu eines Parlamentsbeschlusses bedarf. Eigentlich ein Anliegen, das jeder Brexiteer verstehen müsste - über diese wichtigen Fragen bestimmen nun britische Gerichte und das britische Parlament. Allerdings tobt hier ein Kampf. Die Regierung teilt mit, dass diejenigen, die eine Parlamentsabstimmung fordern, nur den Willen des Volkes behindern wollen und antidemokratisch seien. Die Gerichtsverfahren werden ebenfalls als antidemokratisch angesehen. Ungewähte Richter maßen sich an, sich gegen den Willen des Volkes zu stellen. Die Daily Mail titelte mit Bildern der Richter und der Überschrift "Volksfeinde". Sie deckte außerdem auf, dass einige der Richter Verbindungen zu Europa hätten und dass einer der Richter ein schwuler ehemaliger Olympiafechter sei. Ich halte mich normalerweise mit derlei Vergleichen zurück, aber in Bezug auf Parlament und Gerichte ist das definitiv ein Tonfall wie bei uns in den früheren Dreißigern. Und nicht nur von der legendär bösartigen britischen Presse, sondern von der Regierungsfraktion. Das hätte ich mir von den Briten nicht vorstellen können. Wenn dieses besonnene Volk mit jahrhundertelanger parlamentarischer Tradition innerhalb kürzester Zeit allen Anstand verliert, dürfen wir uns nicht allzu viele Hoffnungen machen.

Das geht alles gegen die Wand.

Alle, die den Zusammenbruch der EU mit Gelassenheit oder gar mit Sympathie betrachten: Wegen der vielen Defizite verstehe ich euch durchaus. Bevor ich auf eurer Seite bin, müsst ihr mir aber zeigen, was an die Stelle der EU treten soll. Ich habe eine klare Vorstellung, was das gerade wäre, und nehme dann lieber die Unsagbarkeiten aus Brüssel in Kauf.


Dienstag, 6. Dezember 2016

Adventsmusik

Auch hier ist jetzt die Zeit der festlichen Musik. Ich möchte deswegen auf die Reihe aus dem vorletzten Jahr, merkwürdige Weihnachtslieder, hinweisen. Weihnachtslieder der ungewöhnlichen Sorte von Big Star, the Damned und Ebba Grön. Muss ich darauf hinweisen, dass die Lektüre dieser kenntnisreichen und verblüffenden Blogposts de rigueur ist, um beim gemütlichen Weihnachtssmalltalk bestehen zu können? Außerdem kommt in einem der Posts der Crazy Frog vor, das hatte ich auch schon wieder verdrängt.

In eher traditionellen Gefilden bin ich letzthin mal wieder auf ein englisches Christmas Carol gestoßen, das mir recht gut gefällt. Zunächst eine etwas etwas rätselhafte, wenn auch werkgetreue Darbietung von Monty Python (wenn man den Sketch von Beginn an ansieht, wird es auch nicht klarer). Und dann die traditionelle, auch sehr schöne Version von Ding Dong.


Samstag, 3. Dezember 2016

Beggar's City/ Radio Banquet

Im Hauptblog bin ich durch ein Foto an zwei LPs erinnert worden, die ich sehr gerne mag. Ein Foto einer blutrot gestrichenen Hoteltoilette sah für mich aus wie ein Mashup der Cover-Artwork von Big Stars "Radio City" und Rolling Stones "Beggar's Banquet" (die ursprüngliche LP kam mit einem neutralen Cover, weil die Plattenfirma das Toilettenbild als nicht angemessen empfand, die Nachpressungen und die CD kommen mit dem ursprünglichem Artwork). Eine kleine Illustration zu der Behauptung:


Ich hatte mir schon mal überlegt, hier eine lose Reihe über Lieblings-LPs zu starten, vielleicht ist das eine gute Gelegenheit, damit anzufangen.

Radio City war die zweite LP von Big Star. Die erste hatte die Band (ähnlich größenwahnsinnig wie ihr Name) "No. 1 Record" genannt, der Erfolg blieb aber weitgehend aus. Anfang der Siebziger Jahre war für eine Band, die eine amerikanische Version des Brit-Beats spielte, kaum Interesse vorhanden und das renommierte Ardent-Plattenlabel bot nicht die Unterstützung, die die Band gebraucht hätte. Bei der ersten LP bestand der Reiz noch in der Spannung zwischen den beiden Songwritern Alex Chilton und Chris Bell, das Ergebnis waren einige der schönsten Beatles-Lieder, die die Beatles nie geschrieben haben. Bei der zweiten war Chris Bell schon ausgestiegen, Alex Chilton, den jeder schon als Bobby Boxtop, den Sänger des Boxtops Hits "The letter" gehört hat, übernahm und Radio City wurde um einiges kantiger als der Vorgänger, immer noch aber voller schöner Melodien und schöner Gitarrenarrangements. Es wird mir immer ein Rätsel bleiben, warum nicht jeder das wunderbare "September Gurls" kennt, das - wenn es irgendeine Gerechtigkeit gäbe - bei den Oldie-Sendern rauf und runter gespielt werden müsste.

(Ein anderer guter Einstieg in die LP ist "Back of a car", von der ersten LP sollte man sich auf jeden Fall "Thirteen" einmal anhören.)
Die dritte LP "Sister Lovers" war dann das Dokument einer zerfallenden Band und von zu viel Alkohol. Ich halte sie für großartig, habe anderswo schon darüber geschrieben.

***

Beggar`s Banquet war das letzte Stones-Album, auf dem Brian Jones noch mitspielte, danach wurde er aus der Band geworfen und bald dann ertrunken im Pool seines Hauses aufgefunden. Inwieweit er im Studio überhaupt noch sinnvoll beigetragen hat, weiß ich nicht. Die Stones hatten noch nicht so richtig ihren Platz gefunden, die frühen Blues-Plagiate standen neben merkwürdigen fast schlagerhaften Experimenten, die sie beim Versuch, die Beatles auf ihrem Gebiet zu schlagen, machten. Die letzte LP, die psychedelische "their Satanic Majesties request", sollte wohl so etwas wie das Gegenstück zur "Sergeant Pepper" sein, von ein paar Liedern abgesehen ist sie aber auch für hartgesottene Hörer schwer erträglich. Die Stones fanden danach eine ähnliche Lösung wie die Beatles, zurück zu den Ursprüngen. Ihre Variante funktionierte aber weit besser als "Let it be" von der Konkurrenz. Die bekanntesten Lieder der "Beggar`s Banquet" sind "Sympathy for the devil" und "Street fighting man", über die will ich aber mal kein Wort verlieren. Sympathy war zwar vor drei Jahrzehnten der Grund, dass ich mich überhaupt mit den Stones beschäftigt habe, deren Dickehosen-Rock mir sonst gewaltig auf den Geist gegangen ist. "Street fighting man" zeigt das Dilemma der Band recht deutlich: Radikal große Fresse, aber dann schnell wieder zurückziehen.
Die Gründe, warum ich das Album mag, sind eigentlich andere Lieder. Die Stones haben sich auf den Blues zurückbesonnen und anders als Anfang der Sechziger waren sie inzwischen in der Lage, ihn angemessen zu spielen. "No expectations" ist für mich eines der schönsten Lieder der Band, wenn sie danach nix mehr aufgenommen hätten, würde ich sie eigentlich noch lieber mögen.

"Prodigal Son" ist das Cover eines alten Bluegrass-Stücks, das die Geschichte vom Verlorenen Sohn nacherzählt. Sparsam instrumentiert und zurückhaltend gesungen fragt man sich, wie das hier neben "Sympathy for the devil" kam. (Die Byrds haben ja noch in weiterem Umfang christliche Bluegrass-Musik gecovert, immer eine schwierige Aufgabe für den Ironie-Detektor.) Eine Stones-Eigenkomposition, die ähnlich schön ist, folgt mit "Factory Girl". Auch hier nimmt man Jagger ausnahmsweise mal ab, was er singt, obwohl er sicher nicht auf die Fabrikarbeitermädels gewartet hat. Ein Lied wie der "Stray Cat Blues" würde heute sicher nicht mehr geschrieben, ein großmäuliger Jagger, der über minderjährige Mädchen singt. Ein Grundproblem dieser Band, die sich immer gerne in falschen Posen, sei es in dem Pseudo-Radikalismus oder Pseudo-Satanismus gefiel, dabei aber nie wusste, was sie damit lostrat. (Man muss sich nur den schönen "Gimme shelter"-Film dazu ansehen.) Naja, auf der "Beggar`s Banquet" finden sich zumindest noch ein Perlen, spätestens fünf Jahre später werden dann aber die LPs eine unhörbare Ansammlung von leeren Posen.

Sonntag, 27. November 2016

Mentale Unordnung

Bloßen Krach höre ich gar nicht so viel, eher Sachen, die andere als Krach einordnen. Eine Ausnahme ist die Band Disorder aus Bristol, die ich immer gerne gehört habe, die aber selbst kaum behauptet hätten, dass ihre Musik mehr als Krach sei.

1982 brachten sie die Mental Disorder EP heraus, deren erstes Lied der "Rampton Song" war. Rampton muss der Ort einer Nervenheilanstalt sein, auch von uns kenne ich, dass man nur sagte, "der war in Kaufbeuren", wenn man das Bezirkskrankenhaus meinte. Das Lied beruht auf den Erfahrungen eines Freunds der Band, der als Punk den Behörden ein Dorn im Auge war und der deswegen in die Nervenheilanstalt eingewiesen wurde. Das Cover zeigt, wie aus dem Punk ein eifriger junger Mann wird. Das Lied ist ein brachialer, nicht unlustiger Protest gegen die Pathologisierung der Punkbewegung. Ich höre es immer wieder gerne, weiss aber auch, dass das für die meisten nicht wirklich nachvollziehbar ist.

(Die Perdition Mini-LP ist auch wunderbar.)

Dienstag, 22. November 2016

Jung samma, fesch samma

Wie so häufig, begann das Unheil mit Religion: Auf unserem Kirchenbasar nahmen wir neben ein paar Büchern auch eine Peter Alexander-CD mit. Peter Alexander war in meiner Kindheit absolut überall präsent, seine Fernsehshow sah die ganze Familie, seine Schlager, auch wenn ich sie jetzt Jahrzehnte nicht mehr gehört habe, kann ich nach ein paar Sekunden mitsingen. Alexander hat auch deswegen für mich Bedeutung, da von ihm die einzigen Lieder kamen, die sich irgendwie mit den Erzählungen der Oma aus dem Sudetenland und dem Abglanz der k.u.k.-Zeiten verbinden ließen - Powidldatschkerl und wie diese Lieder noch hießen (ich muss hier endlich auch einmal den Post zur Tante Jolesch schreiben, schon lange aufgeschoben). Wenn man sich die Peter-Alexander-Lieder anhört ("Die kleine Kneipe", "Feierabend", "Manchmal weinst du sicher ein paar Tränen", "Der Papa wird's schon richten" etc.) hat man die Gräßlichkeit der sechziger und siebziger Jahre in Westdeutschland plastisch und schonungslos vor sich. Aber darum soll's heute gar nicht gehen.

Ich hatte noch vage im Kopf, dass Alexander früher auch viele Elvis-Songs gecovert hat, ich wollte dann über Youtube mal sehen, ob er auch noch ein paar Absonderlichkeiten, die man für die Reihe "Verbrechen auf Schallplatt" verwenden könnte, aufgenommen hat. Vielleicht sogar ein so schöner Fang wie dieser von Karel Gott? Was ich fand, passt dann aber nicht in diese Kategorie, weil es nie auf Schallplatte aufgenommen wurde und weil ich mir bei der Bewertung nicht sicher bin.

Johnny Cash 1992 bei Peter Alexander. Erst singt er "Ring of fire", dann singt Alexander mit ihm einen Country-Song und dann singen beide ein paar Wiener Lieder. "Jetzt trink ma noch a Flascherl Wein", "Jung samma, fesch samma". Ich bin sprachlos.

Zeigt das jetzt nur, wie herunter gewirtschaftet Cash war, bevor er sich zwei Jahre später von Rick Rubin neu erfinden ließ? Oder zeigt das, dass Alexander eigentlich cooler und besser war, als man ihm jetzt zugestehen will? Egal, wie eure Antwort ausfällt: Das Wiener Duett der beiden ist nur schwer erträglich.


Samstag, 19. November 2016

Mann, langweilen mich die USA

Bevor ich jetzt noch einmal etwas zu Trump schreibe, lasse ich lieber die Clash zu Wort kommen. "I'm so bored with the USA", aus dem sehr merkwürdigen "Rude Boy"-Film, der aber einige sehr gute Live-Aufnahmen enthält. Die Klatsche mit "Mann, langweilen mich die USA". Die Clash haben das Intro praktischerweise gleich von den Sex Pistols genommen, deren "Pretty Vacant" genauso anfängt.*

"Rude Boy" habe ich vor 30 Jahren mal in unserem Jugendzentrum gesehen, da es dort eine Gemeinde gläubiger Clash-Jünger gab. Als er vor ein paar Jahren mal wieder auf Arte kam, habe ich ihn mir wieder angesehen und überrascht festgestellt, woher die Zeile "What the hell is wrong with you, you think you're so fucking cool" kommt, die mir immer wieder mal durch den Kopf ging. Schön ist auch Mick Jones im Studio bei "Stay Free". D.h., schön ist er nicht, das Lied klingt in der Version aber wirklich gut.**

*Dafür haben die Pistols das Riff von "Holidays in the Sun" von the Jam - "In the City" geklaut.
** Michali mag es nicht, wenn ich zu viel Clash verlinke, aber da muss er durch. Er kann sich ja etwas für den nächsten Post wünschen.

Sonntag, 13. November 2016

Wir fangen jeden Tag wieder von vorne an

"After much reflection, I believe the difficult but necessary solution to the current political crisis is the ideology I have always held to." (J. Chalmers)

Das Internet ist voll von Analysen der Amerikawahl. Weit verbreitet sind die Stücke, in denen der Autor erklärt, dass er's eigentlich schon immer gewusst hatte, aber keiner auf ihn hören wollte, jetzt seien alle halt selber schuld. Andere geben zu, dass sie zwar vorher unrecht hatten, finden aber ihre Befriedigung darin, dass andere noch mehr unrecht hatten. Wieder andere finden es irgendwie Kacke, aber andererseits hätten wir`s ja nicht anders verdient.* Allgemein herrscht apokalyptische Stimmung, nun lasse sich wohl auch in Europa nicht verhindern, dass die Trottel überall die Macht erringen. Die größte analytische Schärfe erreicht allerdings dieser Artikel, das erläuternde Tortendiagramm vergisst man sicher nicht mehr.

Die ganzen Analysen sind wichtig. Am wichtigsten ist allerdings die Erkenntnis, dass wir - ausgerechnet wir! - langsam zu den letzten gehören, die nicht am Durchdrehen sind. Das sollten wir bewahren. Und das können wir auch bewahren, denn die Zukunft ist noch ungeschrieben und es gibt keine Gesetzmäßigkeit, dass nach Brexit und Trump auch bei uns der Rückschritt herrschen muss.

Was ist zu tun? Wir können uns leider nicht darauf verlassen, dass irgendjemand anderes das für uns übernimmt. Errungenschaften, die man schon gar nicht verteidigt, wird man nicht bewahren können. Also müssen wir für die Dinge einstehen, die uns wichtig sind. Jeder an seinem Platz. Jeden Tag von Neuem. Und kein Defätismus.

(Die erste Zeile dieses Lieds, der Titelmelodie der schönen Fernsehserie "Zur Freiheit", dient mir als Inspiration. Die zweite Zeile dann wieder eher nicht. Aber da kann man ja "lalala" singen.)

*Ein Standpunkt, der immer wunderbar funktioniert, solange einen die Folgen einer bestimmten Entwicklung nicht selbst betreffen.

Mittwoch, 9. November 2016

Wir haben jetzt ein größeres Problem

Ein Vorteil des fortgeschrittenen Alters ist, dass man sich daran erinnert, dass die Amerikaner schon früher Deppen als Präsidenten gewählt haben. Das hat - irgendetwas Gutes muss es ja haben - auch teilweise zu interessanter Musik geführt. Ich meine hier nicht Joseph Beuys mit seinem Ausflug in die Popmusik.

Die Dead Kennedys hatten als erste Single das Lied "California über alles" aufgenommen, ein Lied über den kalifornischen Gouverneur Jerry Brown, der Ambitionen auf die Präsidentschaft hatte. Brown war eigentlich der progressive Traum, Vietnam-Gegner, umweltbewusst, aber trotzdem oder gerade deswegen ein Feindbild für die Punks der Dead Kennedys. In dem Lied wird ein hippie-faschistischer Staat, in dem man in der Schule meditieren muss, beschrieben. 1981 merkten die Dead Kennedys allerdings, dass es schlimmere Dinge als Hippies gibt, zum Beispiel den anderen früheren kalifornischen Gouverneur Ronald Reagan, der inzwischen Präsident war. Es folgte eine neue Version von "California über alles", mit dem wunderbaren Titel "We've got a bigger problem now". Die Band jazzt sich erst mal ein paar Minuten gar nicht übel durch, bis es dann wieder übliches Geknüppel wird. Bei der Suche bin ich auf diese wunderbaren Aufnahmen aus dem Studio gestoßen. Meine Güte, waren die Burschen jung. 

Ronald Reagan regte auch noch andere Bands zur Kreativität an; so auch die Damned mit ihrem "Bad  time for Bonzo". Die Aufnahme ist aus der Alabama-Halle in München.



Trump mag ja vielleicht auch einigen Musikern zur Inspiration dienen. Ich muss mir das dann nicht anhören. 

Samstag, 29. Oktober 2016

Neuer Krach

The Refused habe ich erst mitbekommen, als es sie gar nicht mehr gab. Ab Anfang der 90er hat mich kontemporäre Musik nicht mehr richtig interessiert, so dass ich auch diese schwedische Band nicht mehr registriert habe. Wahrscheinlich hätte ich auch nicht zu interessiert reingehört, zu metallisch, das Leben ist zu kurz, um Metal zu hören. 1997 haben sie ihr Album "The shape of punk to come" abgeliefert, sich danach aufgelöst. Der Albumtitel ist eigentlich eine Frechheit, weil er sich auf Ornette Colemans bahnbrechendes Free Jazz-Album "The shape of jazz to come" bezieht. Um so etwas zu machen, braucht man schon ein gewisses Selbstvertrauen.*

Auf die Band gestoßen bin ich dann über einen obskuren österreichischen Musiksender 2008, bei dem man tatsächlich immer wieder interessante Musik hören konnte. Ich verdanke ihm u.a. die Kenntnis von Art Brut, Refused und Ben l'oncle soul. Das folgende Video hat meine Aufmerksamkeit auf Refused gerichtet (kleines Bekenntnis: Steckt in ein Video Leute in Tierkostümen und ich werde es mir zumindest bis zum Ende ansehen). Diese Pollunderträger haben sich tatsächlich sehr intelligent bei allen möglichen Genres bedient und daraus eine Art alternativer Gitarrenmusik gebastelt, die wegweisend bleibt (trotz des Gekreisches). The shape of punk to come ist dann doch ein zutreffender Albumtitel.

Inzwischen gibt es die Band wieder, aber mir genügt eigentlich "New Noise".


*Endgültig meta wird es dann bei den von mir sehr geschätzten Sonic Boom Six, die ihren Genre-Terrorismus mit dem schönen Lied "The rape of punk to come" propagiert haben.

Donnerstag, 27. Oktober 2016

Das läuft bei mir

Letzthin auf Youtube in alter Musik rumgekramt und den alten Plastic Bertrand mal wieder angesehen. "Ca plane pour moi" von 1977 lief ja damals irgendwie unter Punk, ab und zu gab es das auch mal in der Schuldisco zm Rumhopsen. Später kam ja raus, dass Plastic Bertrand weder das Lied geschrieben, noch auf der Aufnahme gesungen hatte.


Irgendwie hatte ich noch im Kopf, dass es eine Coverversion des Liedes von Captain Sensible gab, Jet Boy Jet Girl. Ein bisschen nachgelesen, die Sache ist doch etwas komplizierter. "Jet Boy Jet Girl" war ursprünglich von einer Band, die Elton Motello hieß. Der Backing track ist offenbar der gleiche wie bei "Ca plane pour moi", die englische Version kam wohl auch ein paar Monate vor der französischen heraus. Bemerkenswert der Text: Es geht um einen Mann, der eine Liebesbeziehung mit einem älteren Mann hat, und später wegen eines Mädchens verlassen wird. Der Text ist durchaus heavy.

Tja, und die dritte Version? Die deutsche ist natürlich die dümmste. Damals wurden ausländische Hits immer noch für deutsche Schlagersänger eingedeutscht, als deutscher Aushilfspunk wurde hier Benny engagiert. Schlimm. Aber enge Hosen hatten die damals an.

U

Samstag, 22. Oktober 2016

Killer Clowns

Gerade ist ja wieder das Meme vom bösen Clown sehr aktuell. Mit zahlreichen (meist erfundenen) Geschichten über gewalttätige Menschen im Clownskostüm. Grund für einen kurzen Blick auf die musikalische Verarbeitung dieses Themas. Die erste Beschäftigung, die mir geläufig ist, kommt von den Dickies, auch eine Band, der man größere Bekanntheit gönnen würde. Die Dickies hatten ja schon immer eine Schwäche für B-Movie-Themen, die erste LP hieß Ende der Siebziger "The incredible shrinking Dickies", danach kam die wunderbare "Dawn of the Dickies", für mich eine der Poppunk-Referenz-Platten. 1988 dann folgerichtig mit "Killer Klowns from Outer Space" die Titelmelodie für ein grottiges B-Movie. Der Band fehlt schon einiges von der früheren Frische, aber immer noch ein ganz nettes Lied (zu einem bescheuerten Thema).




Ein weiteres Lied zu dem Thema, bei dem nicht der Text, aber das Video mit bösartigen Clowns zu tun hat, ist "Fluorescent Adolescent" von den Artic Monkeys.  Ein sinnlos gewalttätiges Video, das mir aber ganz gut gefällt. Leider haben die Artic Monkeys nach zwei tollen LPs dann leider nur noch eher mittelmäßige Rockmucke gemacht.

Freitag, 21. Oktober 2016

Und sie wundern sich, warum wir uns besaufen

Mal wieder Will Varley, den man Liedermacher nennte, wenn's sowas noch gäbe.
Ich höre ihn sehr gerne, hat eine beruhigende und heilende Wirkung. Im Dezember ist er in Berlin, werde ich mir gerne wieder ansehen.

Samstag, 15. Oktober 2016

Der große Hefepastenkrieg



Die Briten mal wieder. Einiges hat sich getan seit meinem letzten Bericht, Theresa May hat zum ersten Mal skizziert, wie sie sich das Land nach dem Brexit vorstellt, und das ist alles nicht schön. Das Pfund ist auf dem niedrigsten Stand gegenüber dem Dollar seit 198123vbg´ds+‚‚‚‚‚‚‚‚‚‚‚x88w7s (Entschuldigung, jetzt war gerade der Kater auf der Tastatur), die Regierung schlägt einen Pranger für Firmen, die Ausländer anstellen, vor, beide Seiten führen im Wesentlichen noch die Kämpfe vor dem Referendum weiter, es findet der große Hefepastenkrieg statt (the great Marmite war) und keiner weiß wie's weiter gehen soll. Für den Bericht verweise ich auf Robert Rotifer, der als EU-Bürger seit langem im UK wohnt, auch dazu bloggt, und auch noch gute Musik macht. Sein Bericht findet sich hier. Seinen Optimismus in Bezug auf die Labour-Partei teile ich nicht ganz, aber ich bin auch weiter weg vom Geschehen. 

Warum muss uns das Schlamassel der Briten interessieren? Zum einen, weil ich denke, dass wir von ähnlichen Diskussionen gar nicht so weit entfernt sind und die Situation im UK ein Beispiel ist, wie schnell eine gesellschaftliche Diskussion kippen kann und das Unsagbare wieder sagbar wird. Zum anderen, weil man zwei Lehren daraus ziehen kann: Das passiert, wenn sich die konservative Mitte aus machtstrategischen Gründen die Themen der extremen Rechten zu eigen macht. Und das passiert, wenn die Linke eine Antiglobalisierungsstrategie erfolgreich mit unkonventionellen Partnern durchziehen will. Fragt doch mal einen Linken im UK nach dem Stand des Brexit als Antiglobalisierungsprojekt. (Zu diesem Gesichtspunkt, aus einer anderen Perspektive auch der Kiezschreiber hier). 


Donnerstag, 13. Oktober 2016

Bob Dylan wrote propaganda songs!

Das Wort zum Literatur-Nobelpreis kommt von den Minutemen:

(Die Jungs hatten schon immer die besten Songtitel.)

Dienstag, 11. Oktober 2016

Ohne Grund (3)

"Meikel war noch wesentlich gefährlicher als Tommi. Meikel hatte Tommi schon in der Endzeit des KFC immer verkloppt. Und nach der Trennung hat er ihm dann mal aufgelauert. Da saß Tommi in seinem Auto, einem riesigen, alten Citroen, und wollte aussteigen. Und Meikel hat ihn von oben zusammengehauen. Einfach durch das runtergelassene Seitenfenster. Tommi hat das als sehr degradierend erlebt. Weil er sich nicht wehren konnte. Der war angeschnallt und kam aus dem Sitz nicht raus." (Tobias Brink, KFC, in: Verschwende deine Jugend)

Nein, nicht noch einmal Peppone, sondern ein kurzer Verweis auf die Deutschpunkband, die auch schon einmal ein Lied "Ohne Grund" aufgenommen hat, allerdings 35 Jahre früher. Ich habe den KFC ja immer gemocht, die Jungs haben allerdings den Namen Kriminalitätsförderungsclub etwas zu wörtlich genommen. Die Schilderungen aus "Verschwende deine Jugend" machen es einem im Nachhinein etwas schwer diese selbstzerstörerische und sinnlos gewalttätige Band zu mögen. Allerdings haben sie ein paar Stücke aufgenommen, die wirklich wegweisend waren (ein paar fanden sich auch schon in früheren Posts). "Ohne Grund" gehört wohl auch dazu, wenn man die letzten zwei Minuten Gitarrenfeedback mal weglässt. Tommi Stumpff singt "Geh nicht ohne Grund", aber Gründe zum Gehen hätte es wohl genug gegeben.


Samstag, 8. Oktober 2016

Ohne Grund (2)

So, jetzt habe ich den Downloadcode für die Peppone-LP "Ohne Grund" bekommen. Vorher kannte ich ja nur, die Lieder, die vorab auf Youtube eingestellt wurden. Um mir ein Bild zu machen, muss ich mir eine Platte aber immer am Stück in Ruhe anhören. Und das konnte ich jetzt tun.

Auf der Platte sind zehn Stücke, sie dauert 38 Minuten. Die Band besteht aus drei Musikern und einer Beatbox, die drei bedienen zwei Gitarren, einen Bass und eine Orgel. Die Musik ist ruhiger Postpunk, der mich an die Boxhamsters und manchmal an Muff Potter erinnert, die allerdings mit der Beatbox und der Orgel eine sehr eigene Note hat. Bei "Das Urteil" habe ich auch an EA 80 gedacht. Die Chöre verirren sich in den Liedern wunderbar, in einer Weise, wie ich sie auch bei The Hated geliebt habe. Die Lieder haben deutsche Texte, die eher persönlich und fragmentarisch sind. Ich mag das sehr gerne. Wer gerne einfache Parolen zum Mitgrölen hat, wird hier nicht auf seine Kosten kommen. Die Texte entziehen sich der einfachen Deutung, bei aller Uneindeutigkeit sind aber immer wieder Zeilen dabei, die wie ein Schlaglicht bestimmte Situationen beleuchten, und die ich mir deswegen vor dreißig Jahren auf die Lederjacke mit Deckweiß geschrieben hätte. Auf mein Jackett kann ich mir jetzt nichts mehr schreiben, schade eigentlich. Es gibt seit einigen Jahren eine Vielzahl von deutschen Bands, die deutsch singen, auch eher persönlich. Die meisten finde ich furchtbar und anbiedernd, von einer erschreckend platten Eindeutigkeit. Da tut es gut, anderes zu hören. Und es gibt auch das andere, allerdings weitab von den Radios, Musikzeitschriften. Ich finde es wichtig, dass man auch von diesen Bands erfährt.

Ich nehme an, dass die Jungs von Peppone auch schon seit ein paar Jahrzehnten dabei sind, entfernt vom jugendlichen Ungestüm, aber trotzdem noch begeistert und beglückt von der Musik, mit einer genauen Vorstellung, wie sie sich anhören muss. Und mit einer klaren Vorstellung, wie sie sich nicht anhören darf. Und man wundert sich selbst, warum man das alles eigentlich noch macht. Das steckt in dem schönene Eröffnungsstück JPN und ich glaube, ich weiß genau, was hinter der letzen Zeile "Solange wir das hier noch tun machen wir keinen anderen Blödsinn" steckt. Deutsche Bands haben meistens den Nachteil, dass es bei den Texten entweder Teenage-Überschwang oder dann reine Klischees gibt. Rebellische Attitüde altert nicht immer gut. Bei Peppone habe ich das Gefühl, dass sie in den Texten schaffen, das Erwachsenenleben zu beschreiben, ohne zu verspießern oder in den Rockklischees zu versumpfen. "Am besten weg" ist ein schönes Beispiel, das eine Situation illustriert, die jeder Erwachsene täglich erlebt: In die Konfrontation gehen oder nachgeben, um des lieben Frieden willens? Wenn's drauf ankommt: "Auch ich habe eine Liste, auf der Du stehst. Kein Kompromiss heut - es ist besser Du gehst." Ein bisschen aus dem Rahmen fällt "Wegen Frauke". Nein, kein Liebeslied, auch wenn es mit einem "Love is in the air"-ähnlichen Bassriff beginnt.  Es handelt davon, dass die Uneindeutigkeit der Texte manchmal auch dazu führt, dass die falschen Leute  sich für die Band begeistern. Denn: "Was zwischen den Zeilen steht, wurde noch nie aufgeschrieben."  Und deswegen formuliert die Band am Ende des Liedes ein deutliches "Nein", damit nicht die falschen Leute ihre Lieder mitsingen. Wegen Frauke.

Ich mag Magdeburg gern, bin da auch immer wieder mal und kenne dort Leute, über die ich mich immer freue, wenn ich sie sehe. Nun kenne ich von dort auch Peppone.

Näheres zu "Ohne Grund" und weitere Hörproben finden sich hier. Wenn ich es richtig sehe, sind von den LPs gar nicht mehr so viele übrig.

Freitag, 7. Oktober 2016

Ohne Grund

"Und wir tanzten bis zum Ende zum Herzschlag der besten Musik. Jeden Abend, jeden Tag, wir dachten schon, das ist der Sieg." (Fehlfarben, Das war vor Jahren)

Torsten von der Bördebehörde hat nicht nur einen schönen Blog und einen extravaganten und exquisiten Musikgeschmack, sondern er betreibt auch ein Plattenlabel, das auch Bördebehörde heißt. Auf diesem Label erscheint die neue Peppone-LP "Ohne Grund".

Ich kenne weder Torsten noch Peppone persönlich, aber ich weiß, dass es viele Leute gibt, denen es ähnlich gehen wird, wenn sie die Musik hören. Die Musik wurzelt in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern, als es auf einmal wieder deutsche Bands gab, die deutsche Texte, Haltung und schöne Gitarrenmusik miteinander verbinden konnten. Ich würde mal vermuten, dass bei den Peppone-Leuten ein paar Boxhamsters und Muff Potter-LPs rumstehen. Man hatte endlich die Musik gefunden, die einem Heimat sein konnte, und musste dann später feststellen, dass die Welt sich weiterdreht und dass die Leute doch lieber gräßliche Musik hören, auch wenn es so viel schöne Sachen gibt.

Dann stößt man wieder auf Bands wie Peppone und kann beruhigt sein, dass die Tradition weitergetragen wird. Und es gibt noch genügend Leute, die sich erinnern und freuen. Die LP kann man hier bestellen. Ich hab schon zugeschlagen.

Mittwoch, 5. Oktober 2016

Micky Maus im Krieg

Den Disney-Konzern stellt man sich ja eher unpolitisch vor. Es ist ja einigermaßen bekannt, dass es einige Donald Duck-Propagandafilme im Zweiten Weltkrieg gab, am bekanntesten "Der Führers Face" von 1943, der den tristen Kriegsalltag in Deutschland zeigte. Daneben gab es in den Vierzigern eine ganze Reihe von Donald-Filmen, die Donald in der amerikanischen Armee zeigten. Die Filme waren sogar einigermaßen subversiv, weil Donald seinen Vorgesetzten, den bösen Kater Karlo, regelmäßig zur Verzweiflung, in die Arrestzelle oder in die Zwangsjacke brachte (auf DVD gibt es die Armeegeschichten als "Donald im Wandel der Zeit - Teil 2").

Die Kriegsaktivitäten von Micky Maus sind weniger bekannt, wahrscheinlich auch deswegen, weil die entsprechenden Comics nach dem Krieg lange Zeit in Europa nicht veröffentlicht wurden. Nach dem Kriegseintritt der USA  Ende 1941 wurde der Krieg allerdings auch in dem täglichen Micky Maus-Zeitungscomic, den Floyd Gottfredson seit 1930 zeichnete, ein Thema. Der Zeitungscomic war  immer auch an ein erwachsenes Publikum gerichtet und begann nun patriotische Themen aufzugreifen. In der Geschichte "Der geheimnisvolle Rabe" (August - November 1942)* versuchen Goofy und Micky einen kriegswichtigen Job in Armee oder Rüstungsindustrie zu bekommen, Goofy ist allerdings zu dämlich und Micky zu klein. Minnie dagegen hat keine Probleme, einen Job bei den Kriegsfreiwilligen zu bekommen, und gibt den beiden den Rat, es als Erntehelfer zu versuchen. Die Geschichte zieht ihre Komik zunächst daraus, dass Micky überall nicht als vollwertiger Arbeiter angesehen wird, weil er zu klein ist. Auf der Farm treibt allerdings auch ein Saboteur, der sich als Krähe verkleidet, sein Unwesen und versucht die Ernte zu vernichten. Micky fängt den Saboteur bevor er einen Staudamm sprengen kann. Es stellt sich heraus, dass der Saboteur Bauern hasst, da er bei einer Gemüseausstellung nur den zweiten Preis erhalten hat. Insgesamt also eine krude Geschichte vor dem Hintergrund des Krieges, die sich allerdings nicht wesentlich von den anderen Geschichten dieser Zeit unterscheidet.

(Copyright Walt Disney, Bild aus Walt Disney's Mickey Mouse by Floyd Gottfredson, Volume 7, March of the Zombies)

Die folgenden eher kurzen Geschichten greifen dann das Thema Arbeiten für Rüstungsbetriebe wieder auf. Interessant ist hier, dass - entsprechend der Kriegsrealität - die Arbeit vor allem von Frauen gemacht wird. Während Gottfredson in früheren Geschichten das Verhältnis der Geschlechter eher auf Mario Barth-Niveau darstellt, lässt er hier Micky schmerzhaft feststellen, dass die Frauen die Arbeit eigentlich besser machen. Er muss sogar feststellen, dass die Omas schneller schrauben können als er.

(Copyright Walt Disney, Bild aus Walt Disney's Mickey Mouse by Floyd Gottfredson, Volume 7, March of the Zombies)

Am 28.6.1943 ändert sich die Micky Maus-Welt. Anstelle der bisherigen Texter Dick Shaw und Merrill de Marris kommt nunmehr Bill Walsh, der später Drehbücher schrieb und Produzent war für Filme wie "Mary Poppins" und "Herbie ein toller Käfer". Für mich enden mit Bill Walsh die klassischen Gottfredson-Zeiten. Die erste Geschichte beginnt damit, dass Kommissar Hunter Micky bittet, sich in eine Benzin-Schmuggel-Bande einzuschleusen. Es stellt sich heraus, dass die Schmuggler Nazi-Spione sind. Die Geschichte ist am 17.7. schon zu Ende und ist reichlich krude, aber was will man bei einem Titel wie "Das Nazi-U-Boot" schon groß erwarten?**

Die Geschichte bereitet allerdings nur ein weiteres, längeres Abenteuer vor, das Micky noch weiter in die Kriegsrealität führt. Am 29.7.1943 sieht man zum ersten Mal ein Bild von Hitler in einem Micky Maus-Comic. Micky soll eine Geheimwaffe, ein neues Flugzeug testen. Kater Karlo, der im Sold der Nazis steht, entführt ihn nach Deutschland. Dort wird gezeigt, wie die Generäle in einem zerstörtem Land ein gutes Leben führen, während es dem Volk an allem fehlt. Micky kann entkommen, Generäle und Kater Karlo gefangen nehmen und nach Amerika entführen; vorher reißt er aber noch am 19.10. das Dach von Hitlers Haus auf dem Hohensalzberg. Die Nazis, die am 20.10.1943 noch der Auffassung sind "Ja... Der Amerikaner iss kapoot", werden schnell eines besseren belehrt.

(Copyright Walt Disney, Bild aus Walt Disney's Mickey Mouse by Floyd Gottfredson, Volume 7, March of the Zombies)

Nach dieser wilden, kruden und propagandistischen Geschichte kehren Walsh und Gottfredson zu mehr konventionellen Abenteuern zurück (Nazi-Agenten tauchen allerdings auch noch später auf). Die verrückt heile Welte von Mousetown kehrt allerdings nicht mehr zurück. Die Welt hat Risse bekommen. Kater Karlo wird dann später auch im Sold Moskaus stehen, als für eine kurze Zeit der kalte Krieg in die Micky Maus-Zeitungscomics weht.


(Copyright Walt Disney, Bild aus Walt Disney's Mickey Mouse by Floyd Gottfredson, Volume 7, March of the Zombies)

*Die Geschichte ist auf deutsch in "Ich, Goofy 2" (Melzer Verlag) veröffentlicht.
** Auf deutsch ist die Geschichte in "Die besten Geschichten von Floyd Gottfredson" veröffentlicht.
*** Die Geschichten sind auf englisch in "Walt Disney's Mickey Mouse by Floyd Gottfredson, Volume 7, March of the Zombies" erschienen. Auf französisch finden sie sich in "L'age d'or de Mickey Mouse par Floyd Gottfredson, Tome 5, 1942-1944".

Montag, 3. Oktober 2016

Nur Nachspeisen

"Immer wenn ich verletzt werde, lass ich das Abendessen aus und esse nur die Nachspeise." (Art Brut, Just Desserts)
Ich habe ja eine Schwäche für Art Brut seit ich vor einigen Jahren im Fernsehen mal das Video zu "Alcoholics Unanimous" gesehen habe. Erst einige Jahre später habe ich herausgefunden, dass Eddie Argos, der Sänger, bei uns um die Ecke wohnt. Und dass die Band wirklich sehr viele wunderbare Lieder hat. Das Spin-Magazin hat Eddie Argos einmal einen der "großen Poeten des Alltäglichen" genannt. I concur.

"Die Diät geht morgen los."

Eddie Argos hat für die Familie Ackerbau eine Spezialversion seines "Unglücklicherweise schmecken Kalorien deliziös"-Bildes gemalt, anstelle des Glases Nutella sieht man hier eine Tafel Marabou-Schokolade.


Samstag, 1. Oktober 2016

Alles wird gut!

Wer gemeint hat, dass ich bei meinen Betrachtungen zur britischen Politik etwas übertreibe, was die Qualität der Akteure angeht, den kann ich beruhigen: Es ist alles noch viel schlimmer.

Man kann es zwar Boris Johnson nicht anlasten, dass das bösartigste und dümmste Blatt Englands, The Sun, bei dem Bericht über seinen Türkeibesuch vor allem über seine neue Frisur schreibt (sogar in der Überschrift).



Was er in einem Interview mit dem Blatt erzählt, lässt einen dann doch glatt glücklich über unsere Ministerriege sein. Er fängt wieder mit dem Prosecco an ("We are pro-secco, but by no means anti-pasto") und singt den Interviewern zur Verdeutlichung, dass alles wunderbar wird, ein bisschen Bob Marley vor.

In Zeiten wie diesen wünscht man sich doch einen solchen Außenpolitiker, oder? (Wenn ich in Zukunft Frank-Walter Steinmeier im Fernsehen sehe, wird deutlich mehr Zärtlichkeit in meinem Blick sein als vorher.)

Für den weitergehend Interessierten, der Action Plan for Brexit, der von weiten Teilen der Conservativen unterstützt wird (man kann nicht glauben, dass das von Leuten unterstützt wird, die irgendwann mal Minister waren):


Und nun, zum ersten und letzten Mal auf diesem Blog: Boris Marley. Zur Beruhigung. Macht euch keine Sorgen. Alles wird gut!


Dienstag, 27. September 2016

Gammas 69. Geburtstag

Am 26.9.1947 tauchte im Mickey Mouse-Zeitungscomicstrip zum ersten Mal eine seltsame Gestalt auf.

Mickey findet ihn, nachdem er in eine Felsspalte gefallen ist. Der kleine Kerl hat seltsame Kräfte, redet aber zunächst nur ein Wort "Eega" (daraus wird dann der Name Eega Beewa, deutsch Gamma). Gottfredson hat in seinen Comics Mickey häufiger einen seltsamen Kompagnon an die Seite gestellt und dann ein paar Monate über die Gags daraus gezogen, dass der Begleiter die gesellschaftlichen Konventionen nicht kennt. Bei Gamma kommt noch hinzu, dass er vollkommen anders ist als die sonstigen Bewohner Entenhausens, etwas später stellt sich heraus, dass er ein Mensch aus der Zukunft ist (der später hinzugefügte Titel der ersten Geschichte war auch "The man from tomorrow").    Wie häufig in der späteren Gottfredson Schaffensphase hat man das Gefühl, dass die Geschichte sich erst mit der Zeit entwickelt, Gottfredson und sein Texter Bill Walsh mit den Figuren herumexperimentieren. So beginnt Gamma nach und nach zu reden, im April 1948 darf er zum ersten Mal seine geliebten Kumquat essen (in den italienischen Comics, in denen Gamma später eine neue Blüte erlebte, wurden aus den Kumquat dann Naphtalin-Kugeln). Gamma bekommt sein Hündchen Flip, er wird als der Gangster enttarnt, der bei seinen Einbrüchen Geld zum Tatort bringt, anstatt es zu stehlen. Im Juni 1948 macht sich der kalte Krieg bemerkbar, Gamma wird der Held einer Spionagegeschichte, nachdem er einen Abwehrschirm gegen alle Waffen entwickelt hat, der von fremden Mächten gestohlen werden soll. Die Spionagegeschichten gehen weiter, als er auf den Reimenden Spion trifft. Mickeys früherer Begleiter Goofy taucht in den Geschichten nur noch am Rande auf, Gottfredson lässt Mickey und Gamma zusammen Abenteuer quer durch alle Genres erleben, vom Western, zum Krimidrama, zum Raumfahrtabenteuer. Gamma mit seinen unbegrenzten Fähigkeiten ist hier immer eine nützliche Figur. In der Geschichte "Die Suche nach dem Moook-Schatz" sind Mickey und Gamma in der ganzen Welt auf Schatzsuche, vom Eiffelturm zu den Pyramiden, und werden schließlich von Kater Karlo nach Moskau verschleppt. Kater Karlo, der im 2. Weltkrieg ja im deutschen Sold stand, ist nunmehr für die Sowjets tätig. Die Geschichte zieht sich über ein halbes Jahr, endet natürlich glücklich. Es ist die letzte Gamma-Geschichte von Gottfredson. Die gemeinsame Zeit von Mickey und Gamma endet dann am 11.6.1950, als Gamma wieder in eine Höhle verschwindet.

Nach Gottfredson haben vor allem die italienischen Zeichner der fünfziger Jahre die Tradition der Abenteuergeschichten mit Gamma weitergeführt, allen voran Romano Scarpa.

Sonntag, 25. September 2016

Brexit heißt Brexit heißt Brexit

Was ist in der Zwischenzeit passiert im UK? Das Referendum über den EU-Austritt liegt nun schon bald drei Monate zurück, allzu viel scheint nicht geschehen zu sein und in den deutschen Medien gibt es schon wieder neue Krisen, die interessanter sind. Da mich das Thema aus verschiedenen Gründen nicht los lässt, hier eine Kurzzusammenfassung der letzten 12 Wochen. Ich habe darauf verzichtet, hier im Einzelnen auf Quellen zu verlinken; wenn jemand einen Beleg zu irgendetwas haben will, einfach in den Kommentaren fragen.

***

Wo stand man Anfang Juli? Die Brexit-Referendum war gewonnen, der Premierminister zurückgetreten, die Labour-Party in einen Streit um den Vorsitz verwickelt. Niemand weit und breit, der auch nur die geringste Ahnung hätte, was man jetzt eigentlich machen sollte. Wo steht man jetzt? Die Konservativen, Labour und auch die unseligen UKIP haben ihren jeweiligen Führungsstreit abgeschlossen. Bei allen drei Parteien gab es bei den Führungsstreiten Szenen, die einen daran zweifeln lassen könnten, ob das alles wirklich passiert oder ob das Meldungen des Postillons sind. Schon im Juli hatte ich die Einschätzung zu dem Labour-Streit, eine Folge Games of Thrones, aufgeführt von den Teletubbies, zitiert; das passt auch auf die anderen. Es ist anscheinend englische Eigenart, dass bei den ganzen innerparteilichen Streitigkeiten immer Gerüchte über Erpressungen etc. aufkommen. Ein paar der plötzlichen Abgänge und Bewerbungen lassen sich aber auch nur schwer erklären.

***

Die Konservativen haben die vorherige Innenministerin Theresa May zur Premierministerin gemacht. Eigentlich hätten alle Parteimitglieder abstimmen müssen; zur Wahl standen die zwei Bewerber, die die meisten Stimmen der Fraktion in Vorwahlen bekommen hatten. Nachdem die Zweitplatzierte Leadsom nach ein paar Tagen wieder ausstieg (unter eher merkwürdigen Umständen), blieb nur noch May übrig. May gilt als Vertreterin des Remain-Lagers, die eigentlich in der EU bleiben wollte, während der Kampagne hat sie sich aber "hinter dem Sofa versteckt" (so der nette englische Ausdruck). Erste Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihres Umsetzungswillens konnte sie dadurch zerstreuen, dass sie drei Schlüsselfiguren der Leave-Kampagne (the three Brexiteers) wichtige Ressorts gab: Johnson ist Außenminister (interessantes Ressort für jemanden, der gerne wahllos andere Leute beleidigt), Davies führt ein neues Ressort "für den Ausstieg aus der EU", Fox ist Minister für internationalen Handel. Ausstehen können sich die drei nicht so richtig, aber das ist wohl auch Mays Kalkül. Auf Fragen, ob May nicht doch schwankend werden könnte, hat sie beständig "Brexit means Brexit" geantwortet. Das ist allerdings auch der Stand der strategischen Planung drei Monate nach dem Referendum; genaueres ist nicht zu erfahren. Die drei Brexiteers haben jeweils versucht, etwas konkreter zu werden, dafür aber jedesmal einen Verweis der Premierministerin erhalten, sie sprächen nur für sich, nicht für die Regierung. Man weiß im Moment weder, wann das UK den Austrittsantrag stellen will, noch, was eigentlich Ziel sein soll.

***

In den deutschen Medien wird oft geschrieben, die Briten würden ihre Entscheidung inzwischen bereuen. Das scheint mir nicht zu stimmen und wird auch nicht durch die neueren Umfragen gestützt. Die Mehrheit will das Thema abhaken und geht davon aus, dass es dem UK ohne die EU besser gehen wird. Eine große Minderheit sieht das anders, es gibt allerdings auf der politischen Bühne keine Partei mehr (mit Ausnahme der Liberaldemokraten), die gegen den Brexit wäre (ich lese gerade, dass es das Thema Brexit beim nächsten Labour-Kongreß nicht einmal auf die Tagesordnung geschaftt hat). Diskutiert wird, wenn überhaupt, über die Modalitäten des Austritts. Dabei hat aber die Rechte die Diskussion voll im Griff. Im Vorfeld der Abstimmung war auch von der Leave-Seite Norwegen als mögliches Modell genannt worden, kein EU, sondern EEA-Mitglied. Nunmehr scheint es fast einen Konsens zu geben, dass das norwegische Modell ausgeschlossen sei, da es auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit beinhaltet. Man liest, gebetsmühlenartig, dass sich die Wähler eben gegen die Einwanderung aus EU-Staaten entschieden hätten, und dies respektiert werden müsse. Ein Großteil der Diskussionen zu möglichen Modellen für die Zukunft ist zudem so, als wenn man Vierjährige mit der Planung beauftragt habe: Machbarkeit ist kein Kriterium, das Prinzip ist "Ich will aber, dass das so ist". Ich habe selten so viele Berichte im Vorfeld zu Verhandlungen gelesen, bei denen davon ausgegangen wurde, dass Verhandlungen darin bestehen, dass man sagt, was man will und das dann bekommt. Der Aufwind nach dem Referendum führt zu gewissem Realitätsverlust.

***

Theresa May hält sich bislang ganz gut, indem sie "Brexit means Brexit" sagt und keinerlei Details zu Zielen oder möglichen Ergebnissen der Verhandlungen verlauten lässt. Sobald sie von einer dieser Linien abweichen muss, hat sie aber gewaltig Ärger. Ihr selbst ist wohl vollkommen klar, dass das alles andere als einfach wird, sie kann es aber nicht sagen, ohne dass sie von Partei und Presse zerfleischt wird.

***

Als jemand, der immer wieder auch mit Verhandlungen zu tun hat, habe ich natürlich besonderes Interesse für die strategischen Aspekte. Es klingt vollkommen banal, aber erste Voraussetzung für eine erfolgreiche Verhandlung ist, dass man weiß, was das Ziel der Verhandlung sein soll. Wenn man das Ziel kennt, kann man darüber nachdenken, mit welchen Maßnahmen man das Ziel erreichen kann. Die Briten haben sich für einen anderen Weg entschieden, sie haben zunächst über die Maßnahme abgestimmt (EU-Austritt), ohne dass es ein gemeinsames Verständnis darüber gäbe, warum man austreten will. Viele haben gegen Masseneinwanderung gestimmt, auch wenn die zu einem großen Teil gar nichts mit der EU zu tun hat, andere waren der Auffassung, man könne die EU-Beiträge sparen und für besseres ausgeben (hier gab es in den Kampagnen die unterschiedlichsten Vorschläge). Am erfolgreichsten war sicher der Slogan "Take back control" - keine Vorgaben mehr aus Brüssel, vollkommene Souveränität des britischen Parlaments. Was dahinter steht, bleibt in vielen Fällen nebulös. Die Tatsache, dass zwar klar ist, dass ein EU-Austritt erfolgen muss, aber nicht, was man damit eigentlich erreichen will (oder freundlicher formuliert: wie die unterschiedlichen Ziele in Verhandlungen priorisiert werden sollen), macht es für die Handelnden nicht unbedingt einfacher. Es zeigt sich auch, dass im UK eine große Unklarheit über die Strukturen der EU herrscht. Das ist umso verwunderlicher, da die Briten immer diejenigen waren, die durch hervorragende Leute in Brüssel dafür gesorgt haben, dass ihre Interessen im Rahmen der EU immer gesichert blieben. Nun ist es den meisten Politikern nicht einmal mehr klar, was der Gemeinsame Markt (der damals von Thatcher gefordert wurde) eigentlich bedeutet oder welche Nachteile es haben könnte, wenn man zu abrupt Abschied nimmt. Eine Lektion kann man aus dem Referendum auch ziehen: es gab einige, die aus einer linken Perspektive gegen die EU der Konzerne gestimmt haben. In der Diskussion im Nachgang kommen diese Gesichtspunkte nicht mehr vor. Die Themen werden von den Rechten bestimmt.

Wir haben also eine Nation, die nicht so richtig weiß, was sie will. Schlimm genug, aber ein anderer Gesichtspunkt macht es noch schlimmer.

***

Ein weiterer grundlegender Punkt bei Verhandlungen ist, dass man für seine Strategie genau wissen muss, was die Alternative ist, wenn man einfach vom Tisch aufsteht und die Verhandlung abbricht. Diese Analyse zeigt, wer letztlich am längeren Hebel sitzt. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass das eine sehr unbeliebte Übung ist, da das Ergebnis der Analyse meistens zur Sorge Anlass gibt. Nur selten ist es so, dass man wirklich abbrechen kann, ohne selbst Schaden zu erleiden. Bei vielen Vorbereitungen mag man sich damit nicht so richtig befassen oder geht mit der Einstellung "wird schon gutgehen" rein. Das wichtigste, was man dann tun kann, ist, für eine sehr realistische Version des Worst Case Szenario zu sorgen, bei der nicht die Hoffnung das Ergebnis verzerrt (damit macht man sich regelmäßig nicht beliebt, man kann aber besser schlafen, wenn es ernst wird). Ein Beispiel: Wenn das Alternativszenario vor Verhandlungen sein sollte: "Wenn wir uns nicht einigen, kann ich immer noch meinen Kram packen und für ein paar Wochen woanders schlafen." sollte man auch genau prüfen, ob man irgendwo unterkommen würde. Die bloße Hoffnung darauf nützt nichts, wenn man dann vor der Tür steht.

Den Briten wurde von der Leave-Seite immer suggeriert, dass die EU eigentlich nur nachteilig sei. Kostet Geld, trifft Entscheidungen gegen das Interesse des UK, stellt eigentlich eine diktatorische EUSSR dar (das liest man relativ häufig). Ein Austritt habe nur Vorteile. Wirtschaftlich gebe es auch keine Probleme, denn die EU sei stärker auf den Handel mit dem UK angewiesen als andersherum. Boris Johnson hat das vor ein paar Tagen noch einmal bestätigt, mit der hirnrissigen Meinung, die EU müsse beim Handel entgegenkommend sein, denn im UK würden 300 Millionen Liter Prosecco im Jahr getrunken (die Zahlen stimmen nicht, aber das ist Johnson sowieso egal). Daneben wird darauf verwiesen, dass das UK der wichtigste Absatzmarkt für deutsche Autos und französischen Käse sei. "They need us more than we need them." Stimmt natürlich alles, die deutsche Wirtschaft würde am meisten leiden, nur müssen die zukünftigen Handelsbeziehungen zwischen dem UK und der EU einstimmig von allen 27 EU-Partnern beschlossen werden (und wahrscheinlich auch in einigen Ländern von den nationalen Parlamenten ratifiziert werden). Die Wahrscheinlichkeit, dass das Abkommen von den Interessen der deutschen Autoherstellern diktiert wird, ist damit eher gering. Für die osteuropäischen Länder ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit der wichtigere Punkt, den sie nicht so leicht aufgeben würden. In diesem Szenario ist - aufgrund der Komplexität und Handlungsunfähigkeit der EU - also eher wahrscheinlich, dass man ohne ein Abkommen über das weitere Wirtschaften auseinandergeht. Das wäre unter Umstände ein Szenario, wo sich die EU zwar einigen wollte, aber gar nicht kann. Was bedeutet das für das UK? Etwa die Hälfte der Exporte, die bislang völlig problemlos in die EU gingen, müssten nach WTO-Regeln behandelt werden. Man müsste sich wieder mit Zöllen und Herkunftsnachweisen beschäftigen. Unternehmen im UK, die ihre Zulieferer europaweit haben, bekommen einige logistische Schwierigkeiten. Die EU würde auch leiden, aber das scheint ja gerade ohnehin deren Kernkompetenz. Wirtschaftlich ein katastrophales Szenario. In der politischen Szene im UK sind aber relativ viele unterwegs, die sagen, dass das alles kein Problem sei. Auch die USA seien nicht im Gemeinsamen Markt und trotzdem größter Handelspartner der EU. Alle berechtigten Warnungen werden als Panikmache abgetan. Wieder Boris Johnson, der dazu vor dem Referendum in Anspielung auf die englische Redensart "you can't have your pie and eat it" gesagt hat, dass er der Auffassung ist, es ginge, die Pastete zu essen und trotzdem noch zu behalten.

May und die Ministerialbürokratie wissen es wohl besser, können aber derzeit nicht allzuviel tun. Jede realistische Einschätzung würde einen Aufschrei des Wahlvolkes erzeugen. Selbst ein gutes Verhandlungsergebnis würde als Niederlage angesehen, da ja die Öffentlichkeit der Auffassung ist, alles bekommen zu können, was sie wollten. Freihandel, Freizügigkeit (natürlich nur für die Briten), keine Zahlungen an die EU, keine Bindung an EU-Recht. Die britische Presse rüstet auf, es gibt schon die ersten Schlagzeilen, dass die EU dem UK den Krieg erklärt. Die Regierung hat keine Ahnung, wie sie aus dieser Nummer wieder rauskommt.  Am rechten Rand passen die Populisten auf, dass man keinen Zentimeter (bzw. kein Inch) zurückweicht.

Ich gehe nicht davon aus, dass sich hier in den nächsten sechs Monaten irgendetwas wesentliches tut. Irgendwann wird vielleicht das wirtschaftliche Disaster so groß, dass irgendjemand erklären muss, dass ein Austritt doch nicht die gute Idee ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemanden gibt, der diese Aufgabe gerne übernimmt. Deswegen wird May versuchen, das alles soweit wie möglich nach hinten zu schieben.

Je nach Schwäche der EU kann das Abenteuer für das UK auch gut ausgehen. Das ist dann aber reines Glück. Man hätte lieber keine Politiker, die die Zukunft des Landes auf dem Pokertisch ausspielen.

***

Auf EU-Seite sieht es vielleicht ein bisschen besser aus. Aber auch nur ein bisschen. Immerhin hat zumindest die Kommission und das Parlament eine Vorstellung, was man mit den Verhandlungen erreichen will. Und die Kommission hat, anders als die Briten, genügend Spezialisten, die wissen, wie man Handelsabkommen verhandelt. Ob das genügt, dass diese Episode zumindest für die EU gut ausgeht? Man muss ja schon froh sein, wenn die EU nicht ohnehin vollkommen unabhängig davon auseinanderbricht.



Donnerstag, 22. September 2016

Der 90. Geburtstag

John Coltrane wäre heute 90 Jahre alt geworden, wenn er nicht schon vor knapp 50 Jahren gestorben wäre. Zum Geburtstag mein Lieblingsstück von der Giant Steps, Syeeda's Song Flute, ein eher beschwingtes Lied, das nach seiner Tochter benannt wurde, weil Coltrane fand, dass es wie ein fröhliches Kinderlied klänge. Finde ich auch. Alles Gute!

Samstag, 17. September 2016

Nicht in diesen Schuhen

Den meisten wird Kirsty MacColl von dem Pogues-Lied "Fairytale of New York" bekannt sein. Sie starb im Jahr 2000 mit nur 41 Jahren bei einem Bootunfall vor Mexiko.

Sie hat einige schöne Lieder gemacht, das meiste auch eher folkig, aber auch solche zickige, eher lateinamerikanisch anmutenden Stückchen wie "In these shoes", ein Lied über Schuhe und merkwürdige sexuelle Vorlieben. Sehr schön.


(Wenn man, ähnlich wie bei der Kaffee-Zusammenstellung, noch ein paar weitere Lieder über Schuhe zusammensuchen würde, gäbe das auch eine recht interessante Mischung....)

Dienstag, 13. September 2016

Kinder auf Kaffee

Der Kiezschreiber, dessen Unbewusstes wie ein Seismograph die Verwerfungen der modernen Gesellschaft aufzeichnet (Super Einleitungssatz, komme ich jetzt ins Feuilleton?), hat einen seiner Träume aufgeschrieben, in dem er ein Punkkonzert besucht, aber sich im Wesentlichen nur an Kaffeetassen erinnert. Das hat natürlich seine absolute Richtigkeit, weil der gepflegte Kaffeesong aus mir sich nicht so richtig erschließenden Gründen vor allem im Punkumfeld gedeiht. Aber der Reihe nach:

Das erste Kaffeelied muss man natürlich in Vor-Punk-Zeiten verorten, mit Bachs Kaffee-Kantate.  Wahrscheinlich 1734 entstanden, jenseits des Kaffee-Contents von zeitloser Gültigkeit. Ich finde das immer ein schönes Beispiel für ein Lied des verpeilten Vaters, der ja am Anfang die ganze Zeit nur herumsingt, dass man mit seinen Kindern doch nur tausend Hudelei hat und dass seine Tochter nicht richtig auf ihn hört. Könnte man auch jetzt noch auf jedem Spielplatz singen (den kaffeespezifischen Gesang der Tochter höre ich nicht mehr so gerne, vor allem, weil mir nicht so recht einleuchtet, warum der Kaffee so süß wie Dukatenwein (oder was weiß ich, die singen ja so undeutlich) sein sollte).


(Das ist eine schöne Aufführung, aber ein wirklich dämliches Video. Der Humor in den weiteren Videos, die hier noch verlinkt werden, wird aber teilweise noch schlimmer.)

Wir machen einen weiten Sprung in die Vierziger Jahre, zu dem nächsten aus meiner Sicht bedeutsamen Kaffee-Lied. Ella Fitzgerald mit Black Coffee Blues, ein wunderbares Stück, das ich auch in Endlosschleife hören könnte, allerdings nicht wirklich Punk. Vielleicht ein bisschen.

Zwischen 1949 und den frühen Achtzigern scheint nicht viel zu passieren in Sachen Kaffee. Da gibt's Otis Redding, aber die meisten Lieder widmen sich dann doch anderen Substanzen (vielleicht übersehe ich hier auch eine Menge, für Hinweise in den Kommentaren bin ich dankbar).

Da taucht im amerikanischen Punk eine Band auf, für die Kaffee etwa die Bedeutung hat wie LSD für die Grateful Dead. Die Descendents, die ein Werk voller Kaffee-Anspielungen hinterlassen haben. Thematisch am klarsten (wenn auch nicht unbedingt musikalisch am überzeugendsten) in dem Lied "Kids on Coffee". In dem Lied wird auch dem Konzept der "Bonus Cup" gehuldigt: in eine Tasse Filterkaffee werden noch ein paar Löffel löslicher Kaffee gerührt, damit es besser dreht. Dabei kommen dann solche Videos raus:



(Offenlegung: Ich hatte in den Achtziger Jahren tatsächlich auch eine Descendents-Kaffeetasse, wie sie in dem Video gezeigt wird und ich schreibe diesen Post in einem Descendents T-Shirt, auf dem eine Karikatur des Sängers als Kaffeekanne zu sehen ist.)

Der Descendents-Schlagzeuger war zu der Zeit auch Schlagzeuger bei Black Flag, nur dadurch ist zu erklären, dass auch das US-Hardcore-Flagschiff ein Kaffeelied aufgenommen hat. Black Coffee, mit den wunderbaren Zeilen "Anger and coffee feeding me". Gespeist von Wut und Kaffee. Eigentlich ein Bürolied, wenn man's sich überlegt.



Auf dem Video sieht man die Band 1983 im SO 36 in Berlin, kurz nachdem jemand Henry Rollins eine Bierdose an den Kopf geworfen hat. Merkwürdigerweise geht der Werfer nicht auf Rollins Angebot, eins mit dem Mikroständer übergezogen zu bekommen, ein. Sicher nicht die beste Liveversion von Black Coffee, aber sicher die berlinerischste

Zum nüchtern werden noch eine punkaffine Kaffeebetrachtung: Art Brut mit "Alcoholics Unanimous", in dem der Katerschrei "Bring me tea, bring me coffee" eine wichtige Rolle spielt.

Bei Eddie Argos kann man auch noch die passenden Bilder dazu kaufen. Bei mir im Büro hängt "Bring me tea".

Montag, 12. September 2016

An der Grenze

Die Musik, die ich höre, gefällt nicht jedem. Und wie meine Familie bestätigen kann, sind dabei irgendwelche Punkstücke noch das geringste Problem, gibt es doch uralte Aufnahmen aus fernen Ländern oder Freejazz-Kostbarkeiten.

Am zuverlässigsten kann ich allerdings meine Familie mit folgender Musik gegen mich aufbringen. Da versagen alle die Gefolgschaft. Für mich nicht so richtig nachvollziehbar, denn was John Zorn mit Naked City macht, ist zunächst nicht geeignet, den ständigen Verdacht gegen Jazz zu belegen, dass "der ja gar nicht richtig spielen könne". Ganz im Gegenteil, die Band ist äußerst präzise, macht slicke Coverversionen von irgendwelcher Filmmusik, spielt sich gekonnt und virtuos durch alle Genres. Jedoch kippen diese Versionen gerne von einer Sekunde auf die andere in atonale Sphären, nach einem Takt ist dann alles wieder in Ordnung, bis dann unvermittelt wieder zwei Sekunden Freejazz-Einschübe kommen. Das ist offenbar schwerer zu ertragen, als ein Lied, bei dem man von Beginn an weiß, dass es atonal ist.

Ich finde das sehr reizvoll, das kurze Stück NY Flat Top Box vermittelt den Eindruck, als wechsele man während des Liedes immer wieder kurz für zwei Sekunden den Radiosender von einer Country- zu einer Jazzstation. Ich mag das sehr gerne. (Ich habe das Stück hier nicht eingebettet, weil ich zwar die Musik mag, das Coverfoto aber nicht ertrage.)
Etwas verträglicher in der schönen Mancini-Coverversion "A shot in the dark".


Freitag, 26. August 2016

Kleine Terz nach unten



Als ich diese Tauben auf der Stromleitung sah, musste ich an Notenlinien denken. Die Tauben notieren g' - e', eine kleine Terz nach unten. Das ist Grundlage für einige wunderbare Lieder, in der reinsten Form sicher bei Human Fly von den Cramps. Ein unglaubliches Lied, das mich mit 14 sehr beeindruckt hat. Diese Einstellung: "Wir wissen, dass die meisten glauben, das hier sei primitiv und keine richtige Musik. Aber das ist genau das, was wir wollen und uns ist es egal, was Ihr denkt." Allein das "And I say bzzzzzzzz" ist fantastisch.

Gefälliger arrangiert findet man die Akkordfolge Dur-Akkord und parallele Molltonart bei Elvis Presley, "(Marie's the name) His latest flame". Schönes Lied, die Strophe basiert im wesentlichen auf den zwei Akkorden.

Vielleicht fällt hier dem einen oder anderem eine Ähnlichkeit mit Wolfgang Ambros' "Schifoan" auf. Die gleichen Akkorde, wieder in punkigen Gefilden, von Zoundz im Lied "Biafra".

Schließlich meine Lieblingsvariation, die zwei Akkorde in der Jazzcore-Crooner-Version von ALL, mit "Dot".

Donnerstag, 18. August 2016

Radio für Erwachsene

Am Sonntag vormittag kam auf Radio Eins (Berliner öffentlicher Rundfunk) irgendeine Kurt-Cobain-Gedenksendung. Radio Eins machte früher Werbung mit dem Spruch "Nur für Erwachsene", um sich von den anderen Sendern hier zu unterscheiden. Inzwischen ist die Musikauswahl allerdings eher "Musik für ehemals coole Über-Vierzigjährige, die sich inzwischen nicht mehr für Musik interessieren". Deswegen wohl auch Kurt-Cobain-Gedenksendungen.

Auf jeden Fall spielten sie ein paar Lieder aus Cobains Lieblingsplatten und der Moderator berichtete über die Cobains Liste der Lieblingsplatten: "Da sind dann auch Sachen wie Black Flag, Musik von so großer Aggressivität und Negativität, die ich im Radio nicht spielen kann und auch gar nicht spielen will."

(Wenn man keine Aggressivität und Negativität im Radio haben will, warum macht man dann Kurt-Cobain-Gedenksendungen?)

Montag, 15. August 2016

Töte die Spottdrossel

Ich mag keine Lieder, in denen Vögel mit dem Tod bedroht werden, ich habe nichts gegen Vogelgesang. Deswegen habe ich zu dem Lied "Kill the mockingbird" von House of Freaks ein eher gespaltenes Verhältnis. House of Freaks habe ich Anfang der 90er einmal live gesehen, als Vorprogramm von Bob Mould. Die Zwei-Mann-Besetzung Gitarre/Schlagzeug war damals noch vollkommen neu, inzwischen ist das ja durch die White Stripes ein geläufiges Konzept. House of Freaks hatten eine sehr reduziert-punkige Art, Folk zu spielen. Ich fand das interessant; so weit ich es mitbekommen habe, war das aber weder bei den Punks noch bei den Folkenthusiasten ein großer Erfolg.

"Kill the mockingbird" ist ein Lied über die Rache an dem Singvogel, es ist Sünde zu singen, es ist Sünde zu fliegen. Unfrohe Sicht, die selbst nichts Schönes erreicht, und deswegen auch anderen nichts Schönes gönnen will. Der Titel ist eine Anspielung auf das Buch "Wer die Nachtigall stört" von Harper Lee, das im Original "To kill a mocking bird" heißt. Warum in der Übersetzung aus der Spottdrossel eine Nachtigall wurde, weiß ich nicht, auch nicht, warum man im Englischen tötet und im Deutschen nur stört.

Der Text hat sich mir in den letzten Nächten allerdings dann doch überraschend neu erschlossen, da ich gerade von drei Hähnen umringt übernachte, die durch die Nacht eine Art Call-and-Response-Gesangswettstreit durchführen. Ich habe schon im Halbschlaf überlegt, das zu transkribieren, aber es ist einfach zu furchtbar. Ja, die Hähnchen würde ich auch lieber als Barbeque essen, wie im Text des Liedes vorgeschlagen, als mir noch länger dieses dilettantische Gekrähe anzuhören.

Grund genug, sich einmal wieder House of Freaks anzuhören. Der Rest der LP war auch nicht schlecht.


Donnerstag, 7. Juli 2016

Anarchy in the UK

Was bisher geschah: Nigel und Boris hatten eine Idee und konnten die anderen überreden mitzumachen. Jetzt stellen sie fest, dass es vielleicht doch keine so gute Idee war.  Die anderen finden die Sache aber immer noch prima. Wie kommen alle aus dem Schlamassel wieder raus? Wollen sie überhaupt aus dem Schlamassel raus? 

***

Das Briten-Debakel beschäftigt mich schon noch ein bisschen. Ich werde deswegen ab und zu hier eine Zusammenfassung des weiteren Fortgangs aufschreiben. Die mediale Aufarbeitung in Deutschland finde ich nicht vollständig hilfreich; sie spiegelt halt wieder, dass inzwischen alle Nachrichten nur noch danach ausgewählt werden, ob sie in ein bestimmtes Weltbild passen. Die Dinge werden also ausgewählt, die ein bestimmtes Muster bestätigen, nach ein, zwei Wochen lässt man das Thema wieder fallen, da gibt es dann sicher wieder den nächsten Aufreger (schön zusammengefasst ist der Mechanismus beim Kiezschreiber). Natürlich habe ich auch eine bestimmte Voreingenommenheit dem Thema gegenüber. Zum einen scheint mir das eines der ersten Beispiele einer erfolgreichen neuen Beliebigkeits-Politik zu sein, die nur auf der Grundlage von Stimmungen operiert und sich nicht einmal mehr den Anschein gibt, wirkliche Lösungen zu haben (Teil II und III können wir dann vielleicht in den USA und in Frankreich sehen). Zum anderen hat diese Politik die Handelnden (und schlimmer noch, ein ganzes Volk,) in eine Lage gebracht, die beim besten Willen nicht mehr zu bewältigen ist.

****

Nach dem Referendum gibt es auf der politischen Bühne im UK Szenen, die wohl selbst der AfD peinlich wären. David Cameron erklärt, als Premierminister zurücktreten zu wollen, die Konservativen müssen einen Nachfolger finden. Die bislang unzertrennlichen Tory-Protagonisten der Leave-Kampagne, Boris Johnson und Michael Gove, die eigentlich die Führung der Partei übernehmen sollten, entzweien sich auf merkwürdige Weise. Stunden bevor Boris Johnson seine Kandidatur als Tory-Premierminister bekannt geben will, kommt ihm Gove zuvor, der immer beteuert hat, er wolle gar nicht Premierminister werden. Er begründet das damit, dass Johnson charakterlich nicht für das Amt geeignet sei.  Johnson, der davon überrascht wird, erklärt daraufhin, dass er nicht kandidiere. Seine Anhänger erklären öffentlich, dass Gove kastriert werden müsse und dass Gove zuviel trinke und deswegen nicht Premier werden könne. Als Kandidaten für das Amt des Premiers bleiben nach dem ersten Wahlgang die bisherige Innenministerin und eine eher unbekannte Energiestaatssekretärin übrig. Der ambitionierte Gove wird von der Partei abgestraft. Bei UKIP tritt der unerträgliche Nigel Farage zurück.
Von der siegreichen Leave-Bewegung ist damit zwei Wochen nach der Abstimmung niemand mehr zu sehen; irgendeine politische Führung ist allerdings auch bei keiner Partei zu erkennen. Bei Labour gibt es eine Revolte gegen Parteichef Corbyn, der ersichtlich wenig Interesse an dem Referendum hatte, es ist aber klar, dass die Parteibasis ihn stützt. In einer Zeitung wird dieser Parteienstreit als "eine Folge Games of Throne, gespielt von den Teletubbies" beschrieben. Say no more.

***

Soweit hat man's auch in der Zeitung gelesen, soweit ist das ja auch amüsant. Dahinter steckt allerdings etwas mehr. Fangen wir bei UKIP an: Einen Tag vor dem Rücktritt von Farage gab es ein relativ interessantes Interview mit einem der UKIP-Geldgeber, der meinte, Nigel hätte jetzt alles erreicht, es sei Zeit, dass er gehe. Der Gedanke dahinter ist, dass UKIP durch die Leave-Kampagne Rückhalt weit in die Tory- und vor allem Labour-Stammwähler bekommen hat. Die Leave-Anhänger, die komplett unrealistische Vorstellungen von dem weiteren Vorgehen haben, werden bis zur nächsten Wahl wahrscheinlich komplett enttäuscht von Tories und Labour sein. Eine gute Perspektive für die bisherigen Schmuddelkinder UKIP, Mandate abzuräumen. Dazu braucht man aber einen Anführer, der etwas seriöser erscheint als Mister Farage. Das Vorgehen der UKIP wird sicher von den Rechtspopulisten in ganz Europa mit Interesse verfolgt.

Schwieriger haben es die Konservativen. In der Partei dämmert es so langsam allen, dass der Austritt aus der EU nicht schnell zu bewältigen ist, und dass es gut gewesen wäre, wenn man irgendeinen Plan für das weitere Vorgehen gehabt hätte. Offen zurückrudern kann man nicht, weil das Wahlvolk relativ aufgedreht ist. Johnson erscheint der Partei nicht mehr geeignet, wesentlicher ist aber, dass der Zeitungsmogul Murdoch Johnson das Vertrauen entzogen hat. Die Konservativen müssen sehen, dass allein die Ankündigung des Austritts wirtschaftlich erhebliche Folgen hat, dass aber jeder Versuch, den Austritt zu verzögern, wilden Zorn des Wahlvolks nach sich zieht. UKIP kann sich in dieser Konstellation zurücklehnen. Um die ersten wirtschaftliche Verwerfungen zu glätten, kündigen die Tories an, den Spitzensteuersatz für Unternehmen noch einmal deutlich zu senken. Wenn man dann mal aus der EU draußen ist, können die Tories dann auch die ungeliebten Arbeitsschutzregeln der EU abschaffen* (und wie schon verschiedentlich erwähnt, es gibt auch einige, die aus der Europäischen Menschenrechtskonvention rauswollen - wie ich gerade lerne, auch eine der Tory-Kandidatinnen  - damit wäre das UK mit Weißrußland das einzige europäische Land, das nicht Mitglied ist). Der fehlenden Freihandel und zusätzlichen Zölle sollen durch einen noch stärker deregulierten Arbeitsmarkt ersetzt werden. Es ist sicher kein Zufall, dass der Austritt vor allem auch im neoliberalen Lager durchaus wohlwollend kommentiert wird.

***

In der deutschen Presse wird suggeriert, dass viele Briten inzwischen ihre Entscheidung bereuten. Das scheint mir nicht zu stimmen. Das Leave-Team ist immer noch siegestrunken, alle negativen Entwicklungen werden als "Miesmacherei" abgetan, es wird darauf hingewiesen, dass es natürlich zunächst schwieriger werde, aber später umso besser. Wenn irgendetwas gerade nicht funktioniert, liegt es an den schlechten Verlierern, die in der EU bleiben wollten, oder eben auch an der EU selbst. Das Ganze ist vollkommen unabhängig von dem tatsächlichen Geschehen. Alle Einmischungen oder Einwirkungen von außen führen aber eher dazu, dass sich ein gewisser Trotz einstellt. Es entlädt sich da ein wirklich überraschender Hass auf die EU, auf die EU-Ausländer; viele Briten sind - wie anscheinend ganz Europa - auch auf Angela Merkel fixiert, die man sich als bösen Geist, weiblichen Wiedergänger Hitlers oder kommunistischen Maulwurf vorstellt. Viele freuen sich, der Merkel-Diktatur gerade noch zu entkommen, einige befürchten, dass die EU einen gar nicht raus lassen würde. Ich weiß nicht, was diese Leute einmal machen, wenn sie es mit einer wirklichen Diktatur zu tun haben. Diese Leute gibt's ja auch bei uns; in England kann man aber gerade sehen, was passiert, wenn das nicht nur 10-20 % sind, sondern eine knappe Mehrheit, die sich zudem durch das Referendum legitimiert führt. Man kann das in den Kommentarseiten der britischen Zeitungen schön nachvollziehen. Nicht mehr "das wird man doch noch sagen dürfen", sondern "Schnauze, wir haben gewonnen. Wenn's dir nicht passt, geh doch nach Brüssel". Interessant ist auch, dass das Schlüsselwort "Verräter" ist. Bist du für uns oder gegen uns? Und wenn es nicht funktioniert, sind halt die bösen Brüsseler, die Bilderberger oder der wilde Watz schuld.  Die Voraussetzungen für ein Umdenken sind also eher nicht gegeben. Die Reaktionen aus dem Rest der EU sind dabei auch nicht hilfreich, andererseits fürchte ich, dass es relativ egal ist, was wir jetzt tun. Die Brexiter werden es nicht mögen. Die Konservativen und die Presse haben da einen Geist aus der Flasche gelassen, den sie kaum wieder einfangen werden.

***

Wirtschaftlich wird das ganze wohl desaströs, allerdings muss man auch sagen, wer weiß, wie das hier in der EU weitergeht. Die Brexiter haben vollkommen illusionäre Vorstellungen vom Welthandel, als könnte man innerhalb von zwei Jahren fünfzig Handelsverträge schließen (das ist sicher auch ein Grund, warum sich die Anführer der Brexit-Bewegung jetzt verzogen haben: das unmittelbare Disaster sollen erstmal andere erleiden). Eigentlich bin ich fast ein bisschen neidisch, dass jetzt die populistische Rechte das schafft, was die Linke schon immer wollte, aber nie durchziehen konnte: Große Teile der Wirtschaft kaputt schlagen wegen einer übergeordneten Ideologie.

***

Leidtragende sind die Leute, die EU-Ausländer im UK, die Briten in Europa, jeder im UK, der jetzt nicht in das Schema passt und den Volkszorn spüren darf. Und man kann es aus der Ferne nur traurig ansehen und darauf hoffen, dass dieses so wunderbare Volk wieder die Kurve kriegt. Und sich fürchten, wenn man sich ansieht, wie wenig Zeit es braucht, um ein Land vollkommen in die Scheiße zu fahren.

*Gerade lese ich im Daily Telegraph den Vorschlag Arbeitsschutz-, Arbeitszeit- und vor allem Elternzeitregelungen abzuschaffen. Das könnten ja Arbeitgeber und Arbeitnehmer individuell vereinbaren. Wirtschaftliches Vorbild für ein Post-Brexit-UK: Singapur. 

Sonntag, 3. Juli 2016

Vergeßt den Schwan

Letzthin am Freitagabend vor dem Pier in der Invalidenstraße gesessen und durch das Fenster immer nur Fetzen der Musik, die in der Kneipe lief, mitbekommen. Seit langem mal wieder Sex Pistols gehört, auch Dead Kennedys und das Meisterwerk der Buzzcocks "Boredom" (mit dem schönsten Gitarrensolo der Welt). Auf einmal läuft etwas, das mir irgendwie vertraut vorkommt, das ich aber nicht zuordnen kann. Ich höre draußen vor allem den Bass, die Linie kommt mir bekannt vor. Nach einigem Grübeln erkenne ich das Lied: Dinosaur Jr. "Forget the swan", von der ersten LP, als sie noch Dinosaur ohne Jr. hießen (ich sehe gerade, dass die Nachpressungen alle auch das "Jr." ergänzt haben. Da habe ich wohl - noch einen! - großen Schatz im Plattenschrank.). Das letzte Mal, dass ich das Lied gehört habe, war wohl als ich vor knapp dreißig Jahren die Platte in unserem Jugendzentrum aufgelegt hatte (auf eine Autofahr-Cassette, ja so etwas gab es früher, hatte ich es dann auch noch einmal aufgenommen). Seltsame Musik, die sich nicht zwischen Neil Young und Punk entscheiden konnte. Ich mochte das gerne.

Dinosaur Jr. haben dann später mit ihrer dritten LP "Bug" so etwas wie einen Indiedurchbruch gehabt.  Dann allerdings mit ziemlichen Gitarrengewittern (ich kann mich erinnern, sie einmal Ende der Achtziger in München gesehen zu haben, als der Gitarrist irgendwann keinen Bock mehr hatte und seine Gitarre einfach gegen seine Marshallbox lehnte und von der Bühne ging. Der Rest der Band spielte zu dem infernalischen Gitarrenfeedback einfach weiter, war auch nicht schlecht.)
J Mascis, der Gitarrist, wohnt jetzt wohl in Kreuzberg, seine langen Haare sind jetzt schlohweiß. Da fällt er wahrscheinlich nicht sonderlich auf. (Die Bandgeschichte ist relativ haarsträubend. Wer sich für Dinosaur Jr. und weitere US-Indiebands der Achtziger wie Sonic Youth, Minutemen, Black Flag, Hüsker Dü, Butthole Surfers etc. interessiert, dem sei das hervorragende Buch "Our band could be your life" von Michael Azerrad empfohlen.)

Montag, 27. Juni 2016

Alle Jahre wieder

Eben nachgesehen: Tatsächlich, Grexit war vor ziemlich genau einem Jahr. Damals gab es ein Referendum eines von der EU gebeutelten Landes, das dann ziemlich rabiat wieder auf Spur gebracht wurde. Ein dreckiges Drama. Das Sequel Brexit scheint dagegen eher ein Slapstick-Katastrophenfilm zu werden. Ich mag nicht darüber nachdenken, wer dann im nächsten Juni dran ist. Everything falls apart.

Letztes Jahr hatte ich das Griechenland-Drama hier mit griechischer Musik hinterlegt (das sind meine liebsten und der Leser unbeliebteste Posts), die Briten machen es einem dann leichter, massenkompatible Musik auszuwählen (gut, die Minutemen gestern waren jetzt nicht wirklich massenkompatibel). Das passende Mottolied für das derzeitige britische Kasperletheater ist natürlich dieser unverwüstliche Oldie:


Wer hätte gedacht, dass gerade Boris Johnson diesen Traum verwirklichen würde: "Don't know what I want, but I know how to get it, I wanna destroy...."
(Mich schmerzt es ja immer ein bisschen, wenn ich mir das so ansehe. Die Pistols waren auch nur eine Heavy Metal-Band.)

Sonntag, 26. Juni 2016

Die Minutemen haben es schon immer gewußt!

Der Aufschrei der Massen könnte auch bloße Flatulenz sein!

The roar of the masses could be farts!

(Von der wunderbaren "Double Nickels on the dime" von 1984)

Die Apokalypse, in einfachen Schritten erklärt

Da die deutschen Zeitungen gerade nicht unbedingt hilfreich sind, das Brexit-Debakel zu verstehen, habe ich den gestrigen Tag damit verbracht, ein paar Originaltöne zu lesen. Auch wenn's weh tut: Die Daily Mail hat stark für den Austritt lobbyiert und die Kommentare sind dort regelmäßig so, dass manches Pegida-Forum erröten würde, aber wenn man die Brexiter verstehen will, dann ist das wohl ein ganz guter Studienort.

I. Sieg!

Am Tag nach dem Referendum musste auch die Daily Mail erklären, was auf die Briten zukommt; eine für diese Seite eher ungewöhnliche Situation, den Lesern zu offenbaren, dass ein Großteil des Verbraucherschutzes auf EU-Normen beruht. Eher grotesk, wenn die Daily Mail tröstet, zumindest in den nächsten zwei Jahren wird sich ja nichts daran ändern, dass die Roaming-Gebühren im EU-Bereich gedeckelt sind und dass die Notfall-Krankenbehandlung in der EU kostenlos bleibt. Einige Leaver wurden auf einmal besorgt, man hätte ein Haus in der Normandie, in das man nach der Rente ziehen wolle, ob es da Probleme geben könnte...? Nun ja. Aber selbst in der Daily Mail finden die Kommentare, dass man ja auch im UK Urlaub machen könne, wenn es im Ausland teurer werde, wenig Anklang. Das sind aber weitgehend Sorgen einer Mittelschicht, die plötzlich feststellt, dass sie gegen ihre eigenen Interessen Leave gewählt hat; die wirklich Abgehängten haben keine Häuser in der Normandie und machen auch keine Auslandsurlaube.

Interessant ist, dass man nirgendwo konkrete Vorteile des Votums genannt bekommt, es bleibt meist bei dem "Now we take control again" und die Demokratie habe gesiegt. An einigen Stellen wird mitgeteilt, dass man jetzt die Immigrants rauswerfen müsse, je nach Standpunkt, meint man damit die Polen oder die Muslims. Ein Leave-Anführer musste allerdings schon gestern mitteilen, dass sich mit dem Austritt aus der EU an der Immigration in das UK nicht allzu viel ändern werde. Das war zwar schon vorher klar, sorgt aber doch für Aufregung bei den Leavern, die es vorher anders mitgeteilt bekommen haben und natürlich anders verstanden haben. Die Daily Mail hat einen eher schwachen Artikel, welche grotesken EU-Regulierungen man nunmehr abschaffen könnte. Das UK kann in Zukunft dann krumme Gurken und Glühlampen kaufen. Und Staubsauger mit 2000 Watt. Wenn man in den Kommentaren liest, für wie viele ein wesentlicher Grund für die Leave-Stimme war, dass sie wieder ihren blauen UK-Pass haben wollen, sind vielleicht auch die Glühlampen ein Grund zu feiern. Häufig findet man in den Kommentaren auch die Forderung, nun endlich auch aus der Europäischen Konvention für Menschenrechte auszutreten. UKIP kommentierte die Berichterstattung über die Währungsturbulenzen, es habe sich um eine sehr britische Apokalypse gehandelt; zur Teestunde sei sie schon wieder vorbei gewesen. Dass das Pfund nur durch 250 Milliarden Stützung durch die Bank of England wieder auf Spur gebracht werden konnte, lässt man dann kurz unerwähnt.

Das andere Camp fasst derlei Äußerungen gerne mit "Truthähne stimmen für ein frühes Weihnachtsfest" zusammen, nicht ganz zu Unrecht. Zwischen den zwei Lagern gibt es aber keinen Dialog, man hält sich gegenseitig für dumm, arrogant, korrupt. Der Leitartikel der Daily Mail beschäftigt sich mit Nigel Farage, ein Lutz Bachmann-ähnlicher Held der kleinen Leute. Ihm werde Ungebildetheit vorgeworfen, in den Vierziger Jahren wäre er aber einer der Piloten der Royal Air Force gewesen, der England verteidigt hätte, während die liberalen Kritiker höchstens einen Schreibtischjob gehabt hätten, Kriegsdienstverweigerer gewesen wären oder gar Kolloborateure. Und wenn sich jetzt das andere Lager beklage, dass es nicht gehört werde: So ginge es dem kleinen Mann seit 50 Jahren. Die Tories haben sich hier teilweise mit einer Bewegung verbündet, die alle Eliten ablehnt, sei es in Brüssel oder London. Das ist praktisch Pegida, was sich hier äußert. Oder, um ein bisschen weiter zu sehen, Donald Trump.

Nach der Lektüre ist man nicht wirklich schlauer, was die Leave-Bewegung eigentlich erreichen wollte. Man bekommt allerdings einen Eindruck, warum Boris Johnson - der Sieger! - bei seinen ersten Pressestatements erschien wie von Panik geschüttelt. Man hat hier Geister aus der Flasche gelassen, die man so leicht nicht mehr zurück bekommt. Und die Missachtung der Institutionen beschränkt sich nicht auf die Europäischen, sondern gilt für alle politischen Institutionen, auch in Großbritannien. Und der typische Leave-Campaigner hat auch für die Tories wenig Sympathien übrig. Er erwartet allerdings jetzt schnelle Umsetzung und schnelle Verbesserungen. Ich an Boris Johnsons Stelle hätte da auch ein bisschen Panik. Ich nehme an, der Plan war, die Leave-Kampagne immer so um 40 % zu halten, um im parteiinternen Streit Erpressungspotenzial zu haben. Hat ja schön geklappt. Sollte sich jeder CDU/CSU-Politiker genau ansehen, der mit der AFD anbandeln will  (Nebenbei: Es ist ja schon häufig angemerkt worden, dass die neuen Populisten - Trump, Johnson, Wilders - merkwürdige Frisuren haben. Wenn Seehofer sich die Haare blond färbte, passte er gut in die Reihe.)

II. Der Plan

Was mich eigentlich noch mehr interessiert, ist welcher Plan hinter der Brexit-Kampagne steht. Wenn man etwas anstößt, was sicher das einschneidendste innenpolitische Ereignis im UK seit vierzig Jahren ist, hat man doch sicher einen Plan (oder zumindest Ziele, die etwas konkreter sind). Bei der Suche bin ich auf einen sehr informativen Bericht eines Parlamentsausschusses gestoßen, der sich mit den wirtschaftlichen Auswirkungen eines Brexits beschäftigt. Die Zahlen beider Seiten werden überprüft und beide Seiten bekommen ein paar Ohrfeigen. Der Bericht ist sicher informativer als das meiste, was man jetzt danach lesen kann. (Die Befragung von Boris Johnson zu den Verboten, Teebeutel zu recyclen oder Luftballons von unter 8jährigen aufblasen zu lassen, ist absurdes Theater). Faszinierender ist das separate Protokoll der Befragung des Leave Campaign Manager Dominic Cummings. Ich glaube, dass niemand - unabhängig von der Ansicht, die er in dieser Angelegenheit hat - dieses Protokoll lesen kann, ohne zu dem Ergebnis zu kommen, dass Herr Cummings ein skrupelloser manipulativer Lügner ist. Das ist nur zu offensichtlich, aber muss Herrn Cummings nicht sonderlich stören, weil ihm klar war, dass es bei der ganzen Geschichte ohnehin nicht um Fakten geht. Man kann hier den neuen und wohl in Zukunft vorherrschenden Typus von Politiker studieren. Zentraler Punkt der Leave-Kampagne waren die 350 Mio. Pfund, die wöchentlich zusätzlich zur Verfügung stünden, wenn man aus der EU austritt. Um die Kampagne für alle Seiten attraktiv zu halten, hat man dieses Geld praktisch allen versprochen. Schade, dass man es nur einmal ausgeben kann, schade auch, dass die tatsächliche Nettosumme weit weniger als 350 Mio. Pfund ist.  Wie sich Cummings um diese Fragen herumwindet, ist schon ein Leseerlebnis. Man kann aus der Befragung allerdings ableiten, wie der Plan für die Austrittsverhandlungen aussieht. Überraschung: Es gibt keinen. Cummings beteuert allerdings, dass das UK auch weiterhin an freiem Handel interessiert sei, man aber ohne die korrupte und unfähige EU in der Lage sei, bilateral viel bessere Konditionen zu verhandeln. Interessant ist dabei, dass Cummings an einigen Stellen mitteilt, dass er die britische Ministerialbürokratie für vollkommen unfähig hält, entsprechende Verhandlungen zu führen; schönstes Zitat: "Die sind nicht einmal in der Lage, sich aus einer Papiertüte herauszuverhandeln." (In der Befragung, bei Q.1441) Bilaterale Handelsverträge mit aller Welt neu zu schließen, innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren - das ist kompletter Wahnsinn. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand, der sich mit der Materie beschäftigt, das zeitlich für möglich hält; ich kann mir auch nicht vorstellen, dass irgendjemand davon ausgeht, das UK bekäme bessere Konditionen als die EU. Fantastisch ist auch die Antwort auf die Frage, wie denn der Finanzplatz London gehalten werden soll. Cummings muss zugeben, dass es außerhalb der EU kein einziges Handelsabkommen gibt, dass auch den Austauch von Finanzdienstleistungen in befriedigender Weise regelte. Aber: das wird sich alles finden! Hauptsache, weg vom korrupten Brüssel. Das entspricht etwa der Vorgehensweise, seinen sehr günstigen Mietvertrag zu kündigen, der Familie zu versprechen, dass man natürlich etwas besseres finde und nach der Kündigung zum ersten Mal nachzusehen, wie der Wohnungsmarkt so aussieht. Kann im Einzelfall klappen, wenn man so etwas allerdings mit der sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt macht, ist man vielleicht ein bisschen sorglos. Noch einmal: es gibt für dieses Projekt keinen Plan. Ich bin mir nach der Lektüre nicht einmal sicher, ob es - außer innenpolitische Rankünen - überhaupt ein Ziel gab. Ich nehme an, dass die Leave-Kampagne gerade fieberhaft nach dem nächsten Sündenbock sucht, dem man  die zwangsläufige Entwicklung dann in die Schuhe schieben kann - wenn man sieht, wie unversöhnlich sich die Lager im UK gegenüber stehen, bekommt man eine Vorstellung, in welche Richtung das weiter gehen wird. Ich nehme an, dass dann auch wieder genügend Nazi-Angela etc. Rhetorik folgt. Dass die liberalen Medien den Leave-Leuten jetzt dauernd erklären, dass sie blöd, beschränkt und rassistisch sind, wird das Ganze auch nicht besser machen.

So behämmert es klingt, wird der einzige Weg aus dem Schlamassel sein, dass wir den Briten helfen, da wieder einigermaßen mit Anstand rauszukommen. Falls das Leave-Votum umgekehrt wird, gerät aber wohl die britische Innenpolitik dauerhaft außer Kontrolle. Und mit einem solchen Vorgehen legt man auch die Axt an die EU, weil dann die ganzen Wahnsinnigen in den anderen Ländern ähnliche Dinge probieren. Die Briten absaufen zu lassen, kann es aber auch nicht sein.

Ich habe jetzt noch ein paar apokalyptische Absätze gelöscht. Sagen wir es so: Ich mache mir Sorgen.

Ergänzung:

III. Die Apokalypse als Slapstickaufführung
Ein paar Stunden weitergelesen: Im UK sind die führenden Protagonisten der Leave-Kampagne abgetaucht. Es gibt im Moment anscheinend niemand, der den Volkswillen ausführen will; kein Wunder, da das Ganze (wie oben dargestellt) eine sehr schlechte Idee ist und es mit jedem Tag deutlicher wird. Meine Prognose: Die Tories werden sich um den Austrittsantrag drücken, unter irgendeinem bescheuerten Vorwand. Die EU wird - gezwungen von Angela Merkel - das Spiel mitmachen. Im Grunde vernünftig. Alle Leave-Aktivisten werden aber feststellen, dass die Brüsseler Eliten anscheinend auf demokratischem Weg nicht besiegt werden können. Willkommen im Bürgerkrieg.