"In the absence of intimidation, creativity will flourish"
G.Ginn

Donnerstag, 7. Juli 2016

Anarchy in the UK

Was bisher geschah: Nigel und Boris hatten eine Idee und konnten die anderen überreden mitzumachen. Jetzt stellen sie fest, dass es vielleicht doch keine so gute Idee war.  Die anderen finden die Sache aber immer noch prima. Wie kommen alle aus dem Schlamassel wieder raus? Wollen sie überhaupt aus dem Schlamassel raus? 

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Das Briten-Debakel beschäftigt mich schon noch ein bisschen. Ich werde deswegen ab und zu hier eine Zusammenfassung des weiteren Fortgangs aufschreiben. Die mediale Aufarbeitung in Deutschland finde ich nicht vollständig hilfreich; sie spiegelt halt wieder, dass inzwischen alle Nachrichten nur noch danach ausgewählt werden, ob sie in ein bestimmtes Weltbild passen. Die Dinge werden also ausgewählt, die ein bestimmtes Muster bestätigen, nach ein, zwei Wochen lässt man das Thema wieder fallen, da gibt es dann sicher wieder den nächsten Aufreger (schön zusammengefasst ist der Mechanismus beim Kiezschreiber). Natürlich habe ich auch eine bestimmte Voreingenommenheit dem Thema gegenüber. Zum einen scheint mir das eines der ersten Beispiele einer erfolgreichen neuen Beliebigkeits-Politik zu sein, die nur auf der Grundlage von Stimmungen operiert und sich nicht einmal mehr den Anschein gibt, wirkliche Lösungen zu haben (Teil II und III können wir dann vielleicht in den USA und in Frankreich sehen). Zum anderen hat diese Politik die Handelnden (und schlimmer noch, ein ganzes Volk,) in eine Lage gebracht, die beim besten Willen nicht mehr zu bewältigen ist.

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Nach dem Referendum gibt es auf der politischen Bühne im UK Szenen, die wohl selbst der AfD peinlich wären. David Cameron erklärt, als Premierminister zurücktreten zu wollen, die Konservativen müssen einen Nachfolger finden. Die bislang unzertrennlichen Tory-Protagonisten der Leave-Kampagne, Boris Johnson und Michael Gove, die eigentlich die Führung der Partei übernehmen sollten, entzweien sich auf merkwürdige Weise. Stunden bevor Boris Johnson seine Kandidatur als Tory-Premierminister bekannt geben will, kommt ihm Gove zuvor, der immer beteuert hat, er wolle gar nicht Premierminister werden. Er begründet das damit, dass Johnson charakterlich nicht für das Amt geeignet sei.  Johnson, der davon überrascht wird, erklärt daraufhin, dass er nicht kandidiere. Seine Anhänger erklären öffentlich, dass Gove kastriert werden müsse und dass Gove zuviel trinke und deswegen nicht Premier werden könne. Als Kandidaten für das Amt des Premiers bleiben nach dem ersten Wahlgang die bisherige Innenministerin und eine eher unbekannte Energiestaatssekretärin übrig. Der ambitionierte Gove wird von der Partei abgestraft. Bei UKIP tritt der unerträgliche Nigel Farage zurück.
Von der siegreichen Leave-Bewegung ist damit zwei Wochen nach der Abstimmung niemand mehr zu sehen; irgendeine politische Führung ist allerdings auch bei keiner Partei zu erkennen. Bei Labour gibt es eine Revolte gegen Parteichef Corbyn, der ersichtlich wenig Interesse an dem Referendum hatte, es ist aber klar, dass die Parteibasis ihn stützt. In einer Zeitung wird dieser Parteienstreit als "eine Folge Games of Throne, gespielt von den Teletubbies" beschrieben. Say no more.

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Soweit hat man's auch in der Zeitung gelesen, soweit ist das ja auch amüsant. Dahinter steckt allerdings etwas mehr. Fangen wir bei UKIP an: Einen Tag vor dem Rücktritt von Farage gab es ein relativ interessantes Interview mit einem der UKIP-Geldgeber, der meinte, Nigel hätte jetzt alles erreicht, es sei Zeit, dass er gehe. Der Gedanke dahinter ist, dass UKIP durch die Leave-Kampagne Rückhalt weit in die Tory- und vor allem Labour-Stammwähler bekommen hat. Die Leave-Anhänger, die komplett unrealistische Vorstellungen von dem weiteren Vorgehen haben, werden bis zur nächsten Wahl wahrscheinlich komplett enttäuscht von Tories und Labour sein. Eine gute Perspektive für die bisherigen Schmuddelkinder UKIP, Mandate abzuräumen. Dazu braucht man aber einen Anführer, der etwas seriöser erscheint als Mister Farage. Das Vorgehen der UKIP wird sicher von den Rechtspopulisten in ganz Europa mit Interesse verfolgt.

Schwieriger haben es die Konservativen. In der Partei dämmert es so langsam allen, dass der Austritt aus der EU nicht schnell zu bewältigen ist, und dass es gut gewesen wäre, wenn man irgendeinen Plan für das weitere Vorgehen gehabt hätte. Offen zurückrudern kann man nicht, weil das Wahlvolk relativ aufgedreht ist. Johnson erscheint der Partei nicht mehr geeignet, wesentlicher ist aber, dass der Zeitungsmogul Murdoch Johnson das Vertrauen entzogen hat. Die Konservativen müssen sehen, dass allein die Ankündigung des Austritts wirtschaftlich erhebliche Folgen hat, dass aber jeder Versuch, den Austritt zu verzögern, wilden Zorn des Wahlvolks nach sich zieht. UKIP kann sich in dieser Konstellation zurücklehnen. Um die ersten wirtschaftliche Verwerfungen zu glätten, kündigen die Tories an, den Spitzensteuersatz für Unternehmen noch einmal deutlich zu senken. Wenn man dann mal aus der EU draußen ist, können die Tories dann auch die ungeliebten Arbeitsschutzregeln der EU abschaffen* (und wie schon verschiedentlich erwähnt, es gibt auch einige, die aus der Europäischen Menschenrechtskonvention rauswollen - wie ich gerade lerne, auch eine der Tory-Kandidatinnen  - damit wäre das UK mit Weißrußland das einzige europäische Land, das nicht Mitglied ist). Der fehlenden Freihandel und zusätzlichen Zölle sollen durch einen noch stärker deregulierten Arbeitsmarkt ersetzt werden. Es ist sicher kein Zufall, dass der Austritt vor allem auch im neoliberalen Lager durchaus wohlwollend kommentiert wird.

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In der deutschen Presse wird suggeriert, dass viele Briten inzwischen ihre Entscheidung bereuten. Das scheint mir nicht zu stimmen. Das Leave-Team ist immer noch siegestrunken, alle negativen Entwicklungen werden als "Miesmacherei" abgetan, es wird darauf hingewiesen, dass es natürlich zunächst schwieriger werde, aber später umso besser. Wenn irgendetwas gerade nicht funktioniert, liegt es an den schlechten Verlierern, die in der EU bleiben wollten, oder eben auch an der EU selbst. Das Ganze ist vollkommen unabhängig von dem tatsächlichen Geschehen. Alle Einmischungen oder Einwirkungen von außen führen aber eher dazu, dass sich ein gewisser Trotz einstellt. Es entlädt sich da ein wirklich überraschender Hass auf die EU, auf die EU-Ausländer; viele Briten sind - wie anscheinend ganz Europa - auch auf Angela Merkel fixiert, die man sich als bösen Geist, weiblichen Wiedergänger Hitlers oder kommunistischen Maulwurf vorstellt. Viele freuen sich, der Merkel-Diktatur gerade noch zu entkommen, einige befürchten, dass die EU einen gar nicht raus lassen würde. Ich weiß nicht, was diese Leute einmal machen, wenn sie es mit einer wirklichen Diktatur zu tun haben. Diese Leute gibt's ja auch bei uns; in England kann man aber gerade sehen, was passiert, wenn das nicht nur 10-20 % sind, sondern eine knappe Mehrheit, die sich zudem durch das Referendum legitimiert führt. Man kann das in den Kommentarseiten der britischen Zeitungen schön nachvollziehen. Nicht mehr "das wird man doch noch sagen dürfen", sondern "Schnauze, wir haben gewonnen. Wenn's dir nicht passt, geh doch nach Brüssel". Interessant ist auch, dass das Schlüsselwort "Verräter" ist. Bist du für uns oder gegen uns? Und wenn es nicht funktioniert, sind halt die bösen Brüsseler, die Bilderberger oder der wilde Watz schuld.  Die Voraussetzungen für ein Umdenken sind also eher nicht gegeben. Die Reaktionen aus dem Rest der EU sind dabei auch nicht hilfreich, andererseits fürchte ich, dass es relativ egal ist, was wir jetzt tun. Die Brexiter werden es nicht mögen. Die Konservativen und die Presse haben da einen Geist aus der Flasche gelassen, den sie kaum wieder einfangen werden.

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Wirtschaftlich wird das ganze wohl desaströs, allerdings muss man auch sagen, wer weiß, wie das hier in der EU weitergeht. Die Brexiter haben vollkommen illusionäre Vorstellungen vom Welthandel, als könnte man innerhalb von zwei Jahren fünfzig Handelsverträge schließen (das ist sicher auch ein Grund, warum sich die Anführer der Brexit-Bewegung jetzt verzogen haben: das unmittelbare Disaster sollen erstmal andere erleiden). Eigentlich bin ich fast ein bisschen neidisch, dass jetzt die populistische Rechte das schafft, was die Linke schon immer wollte, aber nie durchziehen konnte: Große Teile der Wirtschaft kaputt schlagen wegen einer übergeordneten Ideologie.

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Leidtragende sind die Leute, die EU-Ausländer im UK, die Briten in Europa, jeder im UK, der jetzt nicht in das Schema passt und den Volkszorn spüren darf. Und man kann es aus der Ferne nur traurig ansehen und darauf hoffen, dass dieses so wunderbare Volk wieder die Kurve kriegt. Und sich fürchten, wenn man sich ansieht, wie wenig Zeit es braucht, um ein Land vollkommen in die Scheiße zu fahren.

*Gerade lese ich im Daily Telegraph den Vorschlag Arbeitsschutz-, Arbeitszeit- und vor allem Elternzeitregelungen abzuschaffen. Das könnten ja Arbeitgeber und Arbeitnehmer individuell vereinbaren. Wirtschaftliches Vorbild für ein Post-Brexit-UK: Singapur. 

2 Kommentare:

  1. Schön, dass du am Ball bleibst. Die Presse jagt ja schon längst wieder neue Säue durchs Mediendorf (Schießereien und Sport).

    Boris und Co.: So schnell haben die Sieger noch nie eine Party verlassen. Das ist einmalig.

    Die wütenden Tories drohen derweil den Bürgern mit Steuererhöhungen und verkünden gleichzeitig Steuersenkungen für Unternehmen. So besänftigt man den Volkszorn, schon klar ...

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    1. Es wird jeden Tag merkwürdiger. Und die Daily Mail zu lesen ist auf Dauer gesundheitsschädlich...

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