"In the absence of intimidation, creativity will flourish"
G.Ginn

Samstag, 20. Januar 2018

Dork



K. hielt seine Hand vor die Studiotür, sein Chip wurde erkannt und er konnte passieren. Sein Monitor und Computer gingen automatisch an, als er sich hinsetzte. Er sah auf die Uhr am Monitor: Noch fünfzehn Minuten, genug Zeit alles vorzubereiten. Er konnte tatsächlich durch eine Scheibe, die allerdings nur in eine Richtung transparent war, in das Studio nebenan sehen. Ihn hatte das immer schon gewundert, er hätte mit seinem Monitor auch 100 Kilometer entfernt sitzen können und seine Arbeit machen, aber offenbar wollte es die Tradition so. Er konnte zwar in das Studio sehen, reingekommen wäre er aber nie. Seine Sicherheitsfreigabe ging dann doch nicht so weit. 

Nach Plan würde er mit Will arbeiten. Will war wohl der Älteste im Technikerteam, hatte wohl nach der T-Katastrophe hier auch das System aufgebaut, inzwischen musste man sich wundern, dass er überhaupt noch die Technik verstand. Aber er war ein ruhiger und stiller Zeitgenosse, K. arbeitete gerne mit ihm. Letztlich war die Aufgabe auch nicht schwierig. Die Bildregie wurde anderswo geregelt, Will und K. mussten nur aufpassen, dass es mit dem Stream keine Probleme gab. Die meisten Leute sahen den Stream über ihre Retina-Displays, einige mit Datenbrillen. Um Unfälle zu vermeiden, mussten die vorgeschriebenen Warnsignale, fünf und eine Minute vor Beginn des Streams gesendet werden. Außerdem musste man auf ungewohnte Signale aufpassen. K. dachte an den Laserzwischenfall, der vor Jahrzehnten dazu geführt hatte, dass die ersten Anwender der Retina-Displays erblindeten. Das war damals eher ein Security-, als ein technisches Problem gewesen, auch deswegen waren die Sicherheitsvorkehrungen so scharf. Man hatte befürchtet, dass viele das Retina-Display danach ablehnen und bei den Datenbrillen bleiben würden. Die Datenbrillen hatten vor allem den Nachteil, dass sich jeder problemlos den Sendungen entziehen konnte. Aber man hätte keine Sorge haben müssen, fast alle hatten sich an die Retina-Displays gewohnt. Es mochte vielleicht fünf Prozent Verweigerer geben, aber eine bestimmte Anzahl an Querulanten gab es ja immer. 

Will kam, stellte seine Tasche ab. Sie begrüßten sich und sahen schweigend den Vorbereitungen im Studio zu. Dork war bereits da, mit seinem ganzen Stab von Visagisten und Assistenten. Er hatte seine charakteristische schwarz-rot gefleckte Latexmaske auf, der Kopf dabei merkwürdig verlängert. Will schnaubte. „Der Feuerspucker ist wieder dabei. Wir müssen aufpassen, dass es nicht zu hell wird.“ K. stellte schon einmal vorsichtshalber einen Filter ein. Von drüben kam das Zeichen, Will sendete das Fünfminuten-Warnsignal. In fünf Minuten würde praktisch das öffentliche Leben zum Stillstand kommen. Nur der Nahverkehr würde wie gewohnt funktionieren, der wurde schon seit Jahrzehnten ohne menschliche Fahrer abgewickelt. 

K. mochte Dork nicht sonderlich. Dork war nun schon der achte, für den er hier arbeiten musste. Merkwürdig waren sie ja alle, aber K. hatte das Gefühl, dass es mit jedem noch schlimmer wurde. Die Entscheidung, sie bereits alle Jahre auszuwechseln, hatte aus seiner Sicht auch nicht geholfen. Es gab natürlich auch Pendelbewegungen. Nach jedem vulgären aggressiven Typ kam dann ein eher überschwänglich aggressiver Typ oder eine überschwänglich aggressive Frau. K. konnte sich aber nicht erinnern, einen der Vorgänger oder Vorgängerinnen besonders geschätzt zu haben. Aber die Leute im Land sahen es offenbar anders, sonst wären diese Gestalten ja nie so weit gekommen.

K. hatte mit Will noch nie über die Zeit nach der T-Katastrophe gesprochen, heute wandte er sich aber in einem Impuls an ihn. „Hast du eigentlich T. noch wirklich miterlebt?“ Will nickte: „Ich war noch ein Teenager. Meine Eltern sind damals im Seattle-Blitz gestorben.“ Der Ort, wo früher Seattle war, war inzwischen eine ewige Gedenkstätte, genauso wie große Teile der nunmehr ölig schwarzen Küste Alaskas. Das mit der Seattle-Gedenkstätte hatte K. nie verstanden, es würde sowieso Jahrhunderte dauern, bis man sich der Gegend wieder nähern konnte. „Wir haben damals mit T und seinen Schergen aufgeräumt. Ich hatte auch Hoffnung, dass danach Vernunft und Fortschritt wieder einkehren.  O. schien ein gutes Gegenmodell, sie schien offener, freundlicher. Aber wir waren einfach blind, auch das ging ja nicht allzu lange gut. Es ging weiter mit Sensation, Emotion, Geschrei. Offenbar gefiel das den Leuten besser, auch als die nächste Katastrophe drohte. Dann kamen die Manhattan-Beschlüsse.“ K. nickte gedankenverloren. Will und er gehörten schon dadurch zur Elite, dass sie überhaupt von den Manhattan-Beschlüssen wussten. Nach dem neuerlichen Fiasko beschloss eine Versammlung, über deren Zusammensetzung es sehr unterschiedliche Berichte gab, dass das Volk offenbar sich immer für einen Krawallbruder entscheiden würde. Um die schädlichen Folgen solcher Entscheidungen zu reduzieren, wurden die wahren Entscheidungsbefugnisse vollkommen vom Amt getrennt. Krawallbrüder machten Krawall, hatten aber keine Macht mehr, Schaden anzurichten. Die meisten Leute merkten gar nicht , dass alles nur Show war oder es war ihnen egal. K. hätte gerne mehr darüber gewusst, aber Fragen stellen war gefährlich.

Das nächste Zeichen kam. „Nur noch eine Minute!“ K. schaltete das Warnsignal. Er sah ins Studio hinüber. „Hat der heute wieder den meterhohen rot-blauen Plastikpenis dabei? Heißt das, dass der Chinese auch kommt?“ Will schaute hastig in der Dokumentation. „Ja, heute ist wieder Staatsbesuch, der Chinese kommt.“ K. seufzte. Er sah auf den Mann mit der rot-blauen Maske, der einen meterhohen Plastikpenis mit beiden Händen über den Kopf hielt und sich darauf vorbereitete, gleichzeitig zu brüllen und Feuer zu speien.

Er ließ den Ankündigungsjingle laufen: „Meine Damen und Herren, es folgt eine Ansprache des Präsidenten der USA.“