Mittwoch, 7. Oktober 2015

Vor hundert Jahren (2)

(Vorbemerkung: Die Idee hörte sich einfach an, im Abstand von 100 Jahren einfach die verschiedenen Hefte der Fackel von Karl Kraus, die im I. Weltkrieg entstanden sind, vorzustellen. Ich habe es zwar geschafft, die erste Kriegs-Fackel im Dezember 2014 zu beschreiben, irgendwie ist mir aber entgangen, dass es die nächste schon im Februar 1915 gab. Sie beginnt mit dem programmatischen Satz: "Ich bin jetzt nur ein einfacher Zeitungsleser:" und stellt eine Beschreibung aus dem Schützengraben einer Restaurantkritik, die beide am 12.12.1914 in der Zeitung erschienen, gegenüber. Es folgen Zitate von Bismarck und Schopenhauer und der Aufsatz "Der Ernst der Zeit und die Satire der Vorzeit".)

Im Oktober 1915 erschien die nächste Kriegs-Fackel, die erste mit größerem Umfang; mit 168 Seiten eigentlich ein kleines Buch. Das Kernstück bilden zwei Polemiken zu Heinrich Heine, "Die Feinde Goethe und Heine"* und "Die Freunde Heine und Rothschild". Dazwischen, im ersten Teil, Glossen und im hinteren Teil eine Sammlung von Aphorismen, die "Nachts" betitelt wurde. Einiges von dem Material floss dann in das spätere Schauspiel "Die letzten Tage der Menschheit".

Das Heft beginnt wieder mit einer Gegenüberstellung zweier Zeitungsartikel, der eine ein Friedensgebet des damaligen Papst Benedikt, in dem er ein Ende des fürchterlichen Mordens fordert, der andere ein Leitartikel des Herausgebers der Neuen Freien Presse, der auch Benedikt hieß, der genüßlich beschreibt, wie die "Fische, Hummern und Seespinnen der Adria schon lange keine so guten Zeiten gehabt hätten wie jetzt, da sie die Besatzungen gesunkener italienischer Schiffe verspeisen könnten. Bei den Glossen findet sich ein kurzer Text dazu, dass deutsche Universitäten beginnen, den siegreichen Generalen Ehrendoktorgrade der Philosophie zu verleihen. Der Text endet mit dem schönen Satz: " Die deutsche Professoren haben es mit den österreichischen Kellnern gemeinsam, dass sie jeden, der ihnen einen intelligenteren Eindruck als sie selbst macht, zum Ehrendoktor ernennen und die deutschen Kellner und die österreichischen Professoren machen es ihnen nach." In den Glossen werden oftmals nur verschiedene Zeitungsartikel nebeneinander gestellt, daraus ergibt sich manchmal ein Bild einer Zeit und einer Politik, die in einem Moment sich nicht mehr daran erinnern mag, was sie fünf Minuten zuvor als wichtig oder richtig erkannt hat. Der übergangslose Wechsel von einer Behauptung zu ihrem Gegenteil, wie er von Orwell in 1984 beschrieben wurde, fand sich auch schon in der damaligen Kriegsberichtserstattung. Besondere Sorgfalt verwendet Kraus auf die verschiedenen Literaten, für eine Erledigung Ganghofers genügt es schon, einfach kommentarlos drei längere Zitate aus seinen Kriegsberichten hintereinander zu stellen. Auch von einer Kriegsreporterin genügt es, die blutrünstigen Erzählungen der Kampfromantik zu zitieren. Kraus war der Meister des demaskierenden Zitats; im Krieg passierte es ihm häufiger, dass Beiträge, die nur aus wörtlichen Zitaten der Tagespresse bestanden, von der Zensur konfisziert wurden, weil sie auf einmal zu entlarvend schienen.

Nach den Glossen findet sich ein erstaunlich moderner Gerichtsbericht: Kraus war wegen Verletzung des Urheberrechts verklagt worden, weil er eine Werbefotografie des damals populären Schriftstellers Otto Ernst im Rahmen einer Glosse verwendet hatte. Das Gericht sah die Verwendung allerdings im Rahmen einer satirischen Auseinandersetzung mit den Werken des Schriftstellers als gerechtfertigt an. Kraus dokumentierte Urteil und Schriftsätze, und da er reichlich boshaft sein konnte, wurde natürlich auch das Bild wieder reproduziert.

Der Band endet mit einer Reihe von Aphorismen, von denen einer mir seit langem im Gedächtnis ist, der weit über den I. Weltkrieg hinweg zu weisen scheint: "Es gibt eine Idee, die einst den wahren Weltkrieg in Bewegung setzen wird: Dass Gott den Menschen nicht als Konsumenten und Produzenten erschaffen hat. Dass das Lebensmittel nicht Lebenszweck sei. Dass der Magen dem Kopf nicht über den Kopf wachse. Dass das Leben nicht in der Ausschließlichkeit der Erwerbsrücksichten begründet sei. Dass der Mensch in die Zeit gesetzt sei, um Zeit zu haben und nicht mit den Beinen irgendwo eher anzulangen als mit dem Herzen."

Mit den knapp 170 Seiten begann wieder eine produktive Phase. Das nächste Heft erschient bereits 2 Monate später.


*Auch der Originaltitel in Anführungszeichen, um das grammatikalisch falsche Zitat aus einem Zeitungsbericht, der eigentlich gemeinsame Feinde von Goethe und Heine zum Thema hatte, zu kennzeichnen.

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