Dienstag, 5. Januar 2016

St. Henry

Henry Rollins war in der Stadt, mit einer Spoken Word-Performance in der Apostel-Paulus-Kirche in Kreuzberg. Herr Rollins war vor über dreißig Jahren mal Sänger von Black Flag, danach mit eigener Band unterwegs, daneben hat er immer schon geschrieben, seit einigen Jahren ist er nur noch als Autor, Schauspieler und Spoken-Word-Artist (ich finde leider kein passendes deutsches Wort) unterwegs. Herr Rollins kam hier im Blog schon einige Male vor; zum einen, weil seine Musik und Einstellung für mich in den Achtzigern sehr prägend war und sein Buch "Get in the Van. On the Road with Black Flag" mich in den Neunzigern sehr beeinflusst hat, zum anderen aber auch, weil es nicht allzu viele Leute der ersten Stunde gibt, die noch einigermaßen vernünftig unterwegs sind.

Rollins hat einige Wandlungen durchlaufen. Am Anfang war er der tough guy, Sänger in einer Band, der überall Feindseligkeit und Gewalt entgegenschlug, die aber auch für Feindseligkeit und Gewalt sorgte, wenn es irgendwann zu friedlich wurde. Mittendrin Rollins, der Zielscheibe für Gewalt aller Art war, aber auch selbst gehörig austeilte. Ikonisch für diese Phase ist das Cover der "Damaged"-LP, Rollins, der blutiger Faust einen Spiegel zerschlägt. Aus diesem Wahnsinn entstand aber neue, spannende Musik, eine Independent-Kultur. Ohne Black Flag, die ununterbrochen durch die letzten Ecken Amerikas tourten, hätte sich diese Szene nicht entwickelt. Nachdem die Band zerbrach, begann Rollins mit anderen Beschäftigungen neben der Musik, nahm Rollen in verschiedenen Filmen an, machte Body Building und schrieb Bücher. Irgendwann, es muss wohl in den letzten zehn Jahren gewesen sein, kam ihm die Feindseligkeit abhanden. Die Wut, die bis dahin bestimmend für sein Schaffen war, ist nicht mehr zu spüren. Wenn man sich die neueren Podcasts und Programme anhört, wird man kaum mehr ein böses Wort über irgendjemand finden. Verachtung für die Menschheit insgesamt, die sich selbst ins Grab bringt, aber, hey, most people are friendly and cool. Rollins hat anscheinend seinen Frieden gefunden und es freut mich für ihn.

Es ist eher ungewohnt, für eine solches Event in eine Kirche zu gehen. Die Apostel-Paulus-Kirche ist groß, es passen einige hundert Leute hinein, gedrängt in die Kirchbänke. Als Kirchgänger überlege ich, ob man bei Rollins auch hinknien muss, die Kniebänke sind zumindest vorhanden. Mir kommt in den Sinn, dass ich tatsächlich zu Punkevents und Sonntagsgottesdienst grundsätzlich das gleiche anziehe, was entweder auf das Fehlen jeglicher Haltung, eine enorme Authentizität oder auf einen vollkommen unterentwickelten Sinn für Mode hindeutet. Da ich allein bin, kann ich mich noch weiter vorne in eine Bank reindrängen. Während ich warte und halb der Unterhaltung meiner unbekannten Nachbarn zuhöre (ging interessant los, war dann aber doch nur Gejammer über den Job, das kann ich selbst besser, da muss ich nirgendwo lauschen), überlege ich, ob der Abend vielleicht in der Kirche ganz richtig angesiedelt ist. Es trifft sich auf jeden Fall eine Gemeinde, die meisten nicht mehr ganz jung, mit genügend Geld, für drei Stunden Erzählungen 30 EUR zu zahlen und in der Lage, schnellem englischem Text über lange Zeit zu folgen. Man trägt Insignien, die zeigen, dass man schon vor dreißig Jahren dazu gehört hat.

Rollins beginnt pünktlich und erzählt zunächst von seinem ersten Berlinbesuch, vor 33 Jahren, als er mit Black Flag im SO 36 auftrat. Es ist ganz interessant, seine Erzählung mit den damaligen Tagebuchaufzeichnungen in "Get in the Van" abzugleichen, ein paar Dinge finden sich wieder, ein paar andere scheinen mit den Jahren hinzugekommen zu sein,  Legendenbildung lässt sich halt nicht verhindern. Rollins erzählt, wie er mit vollen Bierdosen beworfen wurde und im SO 36 auf der Bühne niedergeschlagen wurde, die erste Geschichte findet sich im Tagebuch (dort allerdings mit dem Zusatz: I grabbed a mic stand and begged the guy to come and get killed), die zweite nicht, allerdings war es tatsächlich so, dass die Band fast bei jedem Auftritt körperlichen Angriffen ausgesetzt war, so dass im damaligen Tagebuch vielleicht nicht alle berichtenswert erschienen. Rollins erzählt, wie toll er Berlin fand, wie prima Deutschland sei; es ist wirklich auffallend, wie der frühere Meister der Destruktivität jetzt höflich und positiv erscheint. Dem Publikum gefällt das natürlich gut, zum einen freut sich jeder auch über das dämlichste Lob, zum anderen kommt es wegen der alten Geschichten, den Legenden, die es jetzt von jemand, der dabei war, noch einmal erzählt bekommen will.  (Hier kann man durchaus noch einmal über den Apostel Paulus, den Patron des Auftrittsorts, nachdenken.)

Danach nimmt das Programm eine andere Wendung. Rollins erzählt davon, wie er sich 1980 zusammen mit Ian McKaye die Motörhead-Platte "Ace of Spades" gekauft hat und beide feststellen mussten, dass diese langhaarigen Hardrocker offenbar härtere und schnellere Musik  als die Punkrocker machten. Es folgen Berichte über die Treffen, die Rollins mit Lemmy hatte, offenbar kannten die beiden sich ganz gut. Das Publikum nimmt die Berichte mit freudiger Bewegung auf, jeder mochte Lemmy. Mir kommt der Gedanke (nicht ausschließlich durch Rollins Berichte, die bei aller Bewunderung doch auch ein paar distanzierte Worte enthalten), dass man es mit einer säkularen Wiederkehr der Heiligenlegenden zu tun hat. Man muss sich nur die Nachrufe auf Lemmy durchlesen, der mit seinem Tod endgültig von einem bemerkenswertem Menschen zu einer legendären Gestalt geworden ist, die für viele Leute sinnstiftend wirkt. Man findet in den Erzählungen vielerlei Elemente der Hagiografie, es gibt meist ein Erweckungserlebnis, die Bewährungsproben etc. (Rollins Geschichte ist in dieser Hinsicht noch eindeutiger). Offenbar besteht auch im nicht-religiösen Umfeld ein Bedürfnis nach solchen überlebensgroßen Gestalten (zu dem spill-over zwischen Religion und atheistischer Musikkultur habe ich ja schon einmal etwas geschrieben). Als Katholik kann ich ja kaum was gegen Heiligenverehrung haben, ich glaube aber, dass man mit diesem Kult den Menschen nicht gerecht wird, weil man sie in bestimmte Rollen drängt (aber jeder, wie er will und meint). Nachdem Rollins hier die Erwartungen des Publikums (der Gemeinde?) erst einmal ganz geschickt bedient hat, nimmt der Abend dann doch noch eine andere Wendung. In den nächsten zwei Stunden kommen keine Geschichten mehr, die mit der frühen Punkszene zu tun haben. Rollins weigert sich auch, eine Gemeinde zu haben. Er sagt, "ich glaube nicht an ein Wir. Du, du und du, ihr seid wahrscheinlich coole Leute, mit denen man etwas machen kann; für mich gibt es nur ein Du und Ich mit einzelnen Leuten, kein Wir." Er erzählt dann relativ lange von einem (schlechten) Film, an dem er mitgewirkt hat, Jack Frost, in dem er einen sadistischen Hockeytrainer spielt und wie er, Jahre später, von einem Biker auf diesen Film angesprochen wurde.  Danach erzählte er von seiner Reise in den Amazonas-Regenwald, den Erwerb seines Tauchscheines  und einem Trip in die Antarktis, hier vor allem über Pinguine, deren Verhalten und deren Geruch. Alles sehr amüsant und kurzweilig (auf englisch keine leichte Kost, da man das Vokabular zu Regenwaldfauna parat haben musste), aber nicht der Stoff, der für Legendenbildung taugt. Einen Teil des Publikums hat er da wohl auch verloren. Rollins nützte den Auftritt allerdings für ein paar Predigereinlagen. Zum einen gab er verschiedene Hinweise für ein erfüllteres Leben (sich eine teure Kopfleuchte kaufen, den Taucherschein machen...), zum anderen hat er den Glauben an die subversive Macht der Musik. Er erzählte, wie er eine Festplatte mit verschiedenster Musik nach Teheran schmuggelte und wie er hofft, dass diese Musik dort die Runde macht. Er erzählte, wie er den Jungschauspielern am Set von Jack Frost auch Musiknachhilfe gegeben hat (dass er die Jungen vor allem mit John Coltrane und Ornette Coleman vertraut gemacht hat, war wohl für die meisten im Raum nicht ganz nachvollziehbar).

Rollins ist sicher bewusst, was das Publikum von ihm erwartet, er bietet auch etwas davon, entzieht sich dann aber der Vereinnahmung. Für diejenigen, die Bedarf an Szene-Heiligen und Aposteln haben, sicher ein Verlust, für mich war es ein interessanter und schöner Abend mit jemand, der sein Unverständnis der Welt nicht mehr hinter Feindseligkeit, sondern höflicher Altersmilde versteckt.

(Dieses wirklich erschreckende Foto hier kam wohl durch die starke Beleuchtung zustande. Ich nehme es mal nicht als Zeichen, dass Rollins hier nur als Lichtgestalt fotografiert werden konnte.)

3 Kommentare:

  1. Sauguter und sauinteressanter Artikel. Danke dafür!

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  2. Gestern früh lief auf ZDF Kultur eine „Later with Jools Holland“-Folge (wg. Abschaltung nächsten Freitag wohl die letzte dort) von 1996, Gäste u. a. ein noch komplett dunkelhaariger David Byrne mit Morcheeba, ein fusselbärtiger Beck und eben die Rollins Band. Da wirkte Rollins schon ziemlich abgeklärt und erzählte beim Interview von der Black Flag-Zeit und seiner „Rettung“ … leider hab’ ich wg. Unterhaltung mit Leuten nur die Hälfte davon mitbekommen.

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    1. Ja, das ist ganz interessant diese Entwicklung anzusehen. Es gibt einen "Henry & Heidi" Podcast, in dem er über Bands und Projekte erzählt, der ganz informativ ist...

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