1. Es ist wieder Projekt-Zeit. Projekt-Muddi Katrin gibt als Motto vor "
Sturheit, Dickköpfigkeit oder einfach Willensstärke". Ein klarer Fall: Es soll diese Woche hier über Floyd Gottfredson gehen, einen leider viel zu wenig bekannten Comicpionier. Die Sturheit geht an mich, weil ich mir schon ohne das Motto zu kennen vorgenommen habe, diese Woche Gottfredson zu würdigen, die Dickköpfigkeit geht an Gottfredsons wichtigste Figur Micky Maus (wir werden gleich ein paar Beispiele sehen) und die Willensstärke charakterisiert Gottfredson selbst, der 45 Jahre für den Micky Maus-Zeitungscomics zuständig war.
2. Micky Maus war zunächst nur ein Filmstar. Nachdem Ende der Zwanziger Jahre die Zeichentrickfilme in den USA ein großer Erfolg waren, fragte das King-Feature-Syndikat bei Disney nach, ob er sich einen Micky-Maus-Zeitungscomic vorstellen könnte. In den USA war und ist es üblich, dass es in den Tageszeitungen Comic-Seiten mit verschiedenen Comic-Serien gibt. King-Feature und andere Syndikate sorgten dafür, dass die zahlreichen Tageszeitungen im ganzen Land mit Comics versorgt werden. Einen Micky-Maus-Comic wollten damals natürlich viele Zeitungen haben. Disney willigte ein und im Januar 1930 gab es den ersten Micky-Maus-Zeitungsstrip, für dessen Manuskript Disney selbst verantwortlich war und dessen Zeichner Ub Iwerks war, der auch für die Zeichentrickfilme verantwortlich war (einen wunderbaren Iwerks Zeichentrickfilm aus den späten Zwanzigern
kann man hier sehen). Beide hattten schon bald keine Lust mehr auf den Comic und übergaben am 10.2.1930 an einen weiteren Studiozeichner, Win Smith. Disney und Iwerks hatten den Strip für lose verbundene Gags genutzt, die sich an Kurzfilmen orientierten, Smith begann dagegen im April eine längere Abenteuergeschichte "Micky Maus im Tal des Todes", die sich über ein halbes Jahr hinziehen sollte. Am 5.5.1930 übergab Smith an Gottfredson, der eigentlich nur für wenige Wochen einspringen sollte. Schon am ersten Tag hatte Micky bei Gottfredson einiges zu tun:
(Gottfredsons erster Tagesstrip am 5.5.1930, aus: Race to Death Valley, Fantagraphics 2011)
3. Man darf die Zeitungscomics nicht mit den Comicgeschichten aus den Heften vergleichen. Ein Zeitungsstrip muss jeden Tag so gestaltet sein, dass er auch für jemand interessant ist, der nicht weiß, was vorher passiert ist. Deswegen sind viele der bekannten Zeitungsstrips auch reine Gag-Comics, wie z.B. Peanuts oder Garfield. Wenn eine längere Geschichte erzählt wird, wird es schon ein bisschen schwieriger. Der Comic sollte dann immer auch mit einer Art Cliffhanger enden, damit die Leute gespannt sind, wie's weitergeht. Die Erzählstruktur wird dadurch etwas ruhelos, längere ruhige Passagen verbieten sich, um das Interesse der Leute am Leben zu halten (geniale Ausnahme sind die frühen Popeye-Strips, die wirklich ein absurdes und surreales Universum aufspannen). Zeitungsstrips waren auch nie Kindercomics wie die späteren Hefte, sondern richteten sich an ein (auch) erwachsenes Publikum.
4. Gottfredsons erste Geschichten waren noch nicht in einer Stadt wie Entenhausen angesiedelt, sondern in einer chaotischen ländlichen Umgebung, Horst Schröder nennt es "ländliche Anarchie". Micky selbst ist noch ein kleiner Clown, Heißsporn und Witzbold, dessen Aktionen alles andere als vorbildlich anzusehen sind. Sein vernünftiger Gegenpart ist Horaz Pferdehalfter. Irgendwann tauchen dann Goofy (und zeitweise auch Donald) in den Comics auf und gegenüber diesen Charakteren wirkt Micky zunehmend erwachsen.
Die chaotischen Einfälle sind dann Goofys Resort; Micky muss erwachsen werden. Gottfredson reagiert darauf, in dem er die Geschichten mehr und mehr an den Krimi- und Abenteuerfilmen der Dreißiger orientiert und nicht mehr unbedingt an den Zeichentrickfilmen. Man darf nie vergessen: Das Publikum der Zeitungsstrips bestand im Wesentlichen aus Erwachsenen.
(Micky scheint in Schwierigkeiten, "Die Jagd auf das Phantom" in "Ich, Goofy" Melzer Verlag, 1975)
Wenn man einige der damaligen Geschichten liest, stellt man allerdings auch fest, dass sie auch bei den Stereotypen fest in der Zeit verwurzelt sind; die Abenteuerepisoden in Afrika z.B. sind inzwischen teilweise nur schwer erträglich.
5. Ende der Dreißiger gab es die spannendsten Micky-Abenteuer, exemplarisch hier gezeigt bei Mickys "Kampf mit dem Phantom", weit entfernt von der Micky-Maus-Kost, die man später in den deutschen Heftchen zu lesen bekam. Gottfredson hatte eine enorme zeichnerische Eleganz entwickelt. Die längeren Geschichten wurden dann aber in den Vierzigern aufgegeben. Offenbar gab es vom Syndikat Anweisungen, dass die langen Abenteuergeschichten vermieden werden sollten, so dass es dann nur noch kurze, sich nur über wenige Wochen erstreckende Episoden gab. Nach dem Krieg sollte es noch einmal für ein paar Jahre lange Geschichten geben, dort traf Micky dann Gamma, den Mann aus der Zukunft. 1955 war dann Schluss mit den langen Geschichten, es gab nur noch unverbundene Gagstrips. Die betreute Gottfredson noch bis 1975. In den 90ern gab es dann noch einmal Versuche, die langen Geschichten in den Zeitungen wieder zu verankern; 1995 wurde dann aber der Micky Maus-Zeitungsstrip ganz eingestellt.
6. Vor allem bei den Geschichten nach 1942 fällt die Zeitbezogenheit immer mehr auf. Micky und Goofy erfüllen ihre patriotischen Pflichten, zunächst als Erntehelfer, später wird Micky von Kater Karlo als deutschem Spion sogar nach Nazideutschland entführt. Er kann entkommen, nicht ohne auf der Flucht noch das Dach von Hitlers Haus in Berchtesgaden einzureißen. Nach dem Krieg entführt Kater Karlo, inzwischen in sowjetischen Diensten Gamma und Micky nach Moskau, Gamma und Micky kämpfen um Pläne für Geheimwaffen. Die Geschichten sind immer noch graphisch elegant, aber kein reines Lesevergnügen mehr und eher historisch interessant. Die klassische Periode liegt sicher in den Geschichten zwischen 1936 und 1942.
(Kater Karlo als Sowjetagent mit Micky und Gamma in Moskau, aus "L'age d'or de Mickey Mouse par Floyd Gottfredson", Tome 9, Génat, 2014)
7. Wo kann man die schönen Geschichten lesen? Es gibt einen "offiziellen" Gottfredson Band, "Die schönsten Geschichten von Floyd Gottfredson", den man sich aber besser spart. Die Comicstrips sind teilweise aus ihrer täglichen Gliederung herausgerissen und in ein untaugliches Format montiert; die Auswahl ist auch nicht vollständig glücklich. Schön dokumentiert waren die Geschichten in den Bänden "Ich, Micky Maus" (1 und 2) und "Ich, Goofy" (1 und 2), die in den 70ern erschienen und die ich Mitte der Siebziger wieder und wieder gelesen habe. Die gibt es auch noch antiquarisch; ich kann nur als Einstieg "Ich, Micky Maus 2" und "Ich, Goofy 1" empfehlen, wenn es die für einen vernünftigen Preis angeboten gibt. Die Reihe ist wohl als "Die großen Klassiker: Ich, Micky" und "Die großen Klassiker: Ich, Goofy" nachgedruckt worden, die man antiquarisch noch für akzeptables Geld bekommt. In der "Die großen Klassiker"-Reihe gibt es auch ein paar ganz günstige Carl Barks-Ausgaben (leider nicht Erika Fuchs-Übersetzungen), aber auch viel mediokres Comicheft-Geschmiere der Sechziger Jahre. Mitte der Achtziger begann im Ehapa-Verlag eine chronologische Ausgabe der Micky-Maus-Zeitungsstrips als "Mickys Klassiker", die dann leider eingestellt wurde, bevor die richtig interessanten Jahre kamen. Die Ausgabe krankt daran, dass die Vorlagen teilweise nicht wirklich gut waren. Auf englisch gibt es eine Gottfredson-Gesamtausgabe von Fantagraphics, die in jeder Hinsicht in sehr guter Qualität ist. Die Tagescomics sind hier, anders als in den vorher genannten Ausgaben, im Original-Schwarzweiß abgedruckt. Ich muss allerdings zugeben, dass der Slang, den Micky und seine Freunde sprechen, manchmal nur schwer zu verstehen ist. In Frankreich gibt es die "L'age d'or"-Reihe, die die klassischen Gottfredson-Strips in Farbe und in sehr hoher Qualität und in einem sehr großen Format bringt. Wäre schön, wenn es etwas entsprechendes in Deutsch gäbe. Die Qualität der einzelnen Ausgaben kann man aus den verschiedenen Bildbeispielen ersehen.
*"Der Erzieher der Maus" ist kein Buch, sondern ein Ehrentitel für Floyd Gottfredson, der Micky Maus zwar nicht erfunden, aber über Jahrzehnte wesentlich geprägt hat. Die Bezeichnung findet sich in dem schönen Essay von Horst Schröder in "Ich Goofy, Band I", dem ich auch viele der hier verwendeten Informationen verdanke.