Eines der Bücher, die ich schon seit Monaten hier besprechen will, und bei denen es mir furchtbar schwer fällt. Wolfgang Herrndorfs "Arbeit und Struktur" beschreibt tagebuchartig das Leben des Autors von der Diagnose Hirntumor im März 2010 bis zu seinem Tod im September 2013.
Zwei Dinge machen es mir schwer, etwas über dieses Buch zu schreiben: Zum einen war Herrndorf zum Zeitpunkt der Diagnose etwa so alt wie ich's jetzt bin, zum anderen spielte sich sein Alltag zu einem großen Teil in den Straßen ab, die ich jeden Tag auf und ab wandere. Die Invalidenstraße kommt vor, er beschreibt das Essen in der Mensa Nord in der Hannoverschen Straße und bei manchen Daten weiß ich, dass ich an dem Tag (wahrscheinlich aber nicht gleichzeitig) auch dort beim Essen war. Damit wird es noch weniger möglich, sich dem Geschehen zu entziehen.
Das Tagebuch beschreibt das Fortschreiten der Krankheit, analytisch, distanziert, obwohl das Geschehen ungeheuerlich ist. Wegen des Hirntumors hat Herrndorf zunächst visuelle Ausfälle, dann motorische, schließlich verliert er Orientierungssinn und hat Schwierigkeiten, Worte zu finden. Während der Krankheit schreibt er den Roman "Tschick", hat damit erstmalig großen Erfolg und weiß, dass er nicht mehr die Zeit hat, diesen Erfolg auszukosten. Er hält sein auseinanderfallendes Leben zusammen mit "Arbeit und Struktur", Bewegung, Schreiben, Lesen. Seine Einträge sind scharfsinnig und witzig, auch wenn die nüchterne Beschreibung des fortschreitenden Verfalls schwer zu ertragen ist. Aber Herrndorf weigert sich, vor der Krankheit zu kapitulieren, so fährt er z.B. weiter Rad, auch wenn er sich kaum noch orientieren kann. Trotz des beschriebenen Kontrollverlust behält er sein Leben in der Hand, bis zuletzt.
Ein schönes Buch über das Leben im Angesicht des Todes (und jenseits von jeder Religion). Und natürlich auch über das Berlin zwischen Novalisstraße und Hohenzollernkanal. Und "Arbeit und Struktur" ist vielleicht die Zauberfomel auch für Leute, die nicht tödlich krank sind.
"In the absence of intimidation, creativity will flourish"
G.Ginn
Montag, 25. Januar 2016
Donnerstag, 21. Januar 2016
Lebenslauf
Am Sonntag hatte ich ja Gelegenheit, den Londoner Songwriter Will Varley zu sehen. Während er live ja ein paar kabarettartige Züge hat, sind die Platten ruhige und klare melancholische Kunstwerke. Irgendwie erinnert es mich manchmal an Reinhard Mey. Zwei Lieder haben mir besonders gut gefallen. "King for a king", ein Lied über den Lauf des Lebens, in dem dazugehörigen Video schön und traurig illustriert.
Ich habe mit 15 auch einmal ein Lied über den Lauf des Lebens geschrieben, mit aller Desillusioniertheit zu der 15-Jährige fähig sind. In meinem Leben bin ich gerade in Strophe 2 angelangt, ich hoffe mein Schicksal ist gnädiger als ich es mit dem Protagonisten des Liedes vor dreißig Jahren war.
Noch ein weiteres Lied und schönes Video von Will Varley:
Ich habe mit 15 auch einmal ein Lied über den Lauf des Lebens geschrieben, mit aller Desillusioniertheit zu der 15-Jährige fähig sind. In meinem Leben bin ich gerade in Strophe 2 angelangt, ich hoffe mein Schicksal ist gnädiger als ich es mit dem Protagonisten des Liedes vor dreißig Jahren war.
Noch ein weiteres Lied und schönes Video von Will Varley:
Dienstag, 19. Januar 2016
Wo bleibt das Positive?
"Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt" fragte schon Erich Kästner vor neunzig Jahren.
Also soll's hier mal positive Nachrichten geben, von dem Mann, der sein letztes Album "Positive Songs for negative People" genannt hat. Über Frank Turner habe ich ja schon ausführlicher geschrieben, er war mal wieder in Berlin und Frau Ackerbau und ich sind hingetrabt.
Zwei negative Einsprengsel gleich am Anfang:
1. Ich habe festgestellt, dass der angetrunkene Muckibuden-Typ mit GI-Haarschnitt gar nicht der unangenehmste Mensch ist, den man bei einem ausverkauften Konzert vor sich haben kann. Schlimmer noch ist das hopsende Mädchen mit Rucksack und Pferdeschwanz.
2. Wenn ich hier im Blog mal ordentliche Titel und Schlagworte einführen würde, dann würden die Artikel vielleicht auch mal gefunden werden.
Nun soll's vollständig positiv weitergehen.
Das Huxleys war vollständig ausverkauft, die Schlange ging über die ganze Straße. Um 20 Uhr ging es mit Will Varley los, einem Londoner Songwriter mit Gitarre. Vom Phänotyp hatte er etwas Fredl Fesl-haftes, was ich ja nicht unangenehm finde, Fredl Fesl habe ich in meiner Jugend sehr gerne gehört. Eine weitere Ähnlichkeit lag darin, dass Will Varley auch einige humoristische Einlagen hatte, allerdings waren die Anspielungen auf die englische Politik nicht ganz einfach zu verstehen. Das liest sich jetzt wahrscheinlich nicht sonderlich begeisternd, Will Varley war aber wirklich gut; ich habe mir eine CD mitgenommen, die sehr schöne, ernste Balladen zur Gitarre enthält (ich mache dazu noch einmal einen Extra-Post).
Zweite Vorband: Skinny Lister. Kannte ich vorher auch nicht, auf die Bühne marschieren fünf Männer und eine Frau, zwei Gitarren, eine Ziehharmonika, ein akustischer Bass, Schlagzeug. Die Band beginnt mit Folk mit gewaltiger Power, das Ganze erinnert an die frühen Men they couldn't hang. Später klingt es auch noch nach den frühen Pogues, ein großes Gehopse im Publikum. Ich fühle mich tatsächlich an die Pogues-Konzerte Ende der Achtziger erinnert. Kann man wirklich nur empfehlen, eine sehr schöne Liveband.
Nachdem man nun schon mehr gute Musik gehört hatte, als bei normalen Konzerten insgesamt, kam dann Frank Turner. Im Prinzip macht der Mann ja Stadionrock, aber im kleinen Rahmen und mit einer dermaßen positiven Ausstrahlung, dass auch ein alter Griesgram wie ich, der immer versucht einen Bogen um Mainstream zu machen, sich dem nicht entziehen kann. Turner spielte sich quer durch seine Platten, zwang die Leute zum Mitsingen und zum Tanzen und so hopste schließlich der ganze Saal. Selten so viele gut gelaunte Menschen auf einem Haufen gesehen, dazu schöne kraftvolle und kluge Musik. Turner spielte knapp zwei Stunden, am Schluß waren sowohl die Band als auch das Publikum am Ende.
Ein schöner Abend (am nächsten Tag taten mir alle Knochen weh).
Also soll's hier mal positive Nachrichten geben, von dem Mann, der sein letztes Album "Positive Songs for negative People" genannt hat. Über Frank Turner habe ich ja schon ausführlicher geschrieben, er war mal wieder in Berlin und Frau Ackerbau und ich sind hingetrabt.
Zwei negative Einsprengsel gleich am Anfang:
1. Ich habe festgestellt, dass der angetrunkene Muckibuden-Typ mit GI-Haarschnitt gar nicht der unangenehmste Mensch ist, den man bei einem ausverkauften Konzert vor sich haben kann. Schlimmer noch ist das hopsende Mädchen mit Rucksack und Pferdeschwanz.
2. Wenn ich hier im Blog mal ordentliche Titel und Schlagworte einführen würde, dann würden die Artikel vielleicht auch mal gefunden werden.
Nun soll's vollständig positiv weitergehen.
Das Huxleys war vollständig ausverkauft, die Schlange ging über die ganze Straße. Um 20 Uhr ging es mit Will Varley los, einem Londoner Songwriter mit Gitarre. Vom Phänotyp hatte er etwas Fredl Fesl-haftes, was ich ja nicht unangenehm finde, Fredl Fesl habe ich in meiner Jugend sehr gerne gehört. Eine weitere Ähnlichkeit lag darin, dass Will Varley auch einige humoristische Einlagen hatte, allerdings waren die Anspielungen auf die englische Politik nicht ganz einfach zu verstehen. Das liest sich jetzt wahrscheinlich nicht sonderlich begeisternd, Will Varley war aber wirklich gut; ich habe mir eine CD mitgenommen, die sehr schöne, ernste Balladen zur Gitarre enthält (ich mache dazu noch einmal einen Extra-Post).
Zweite Vorband: Skinny Lister. Kannte ich vorher auch nicht, auf die Bühne marschieren fünf Männer und eine Frau, zwei Gitarren, eine Ziehharmonika, ein akustischer Bass, Schlagzeug. Die Band beginnt mit Folk mit gewaltiger Power, das Ganze erinnert an die frühen Men they couldn't hang. Später klingt es auch noch nach den frühen Pogues, ein großes Gehopse im Publikum. Ich fühle mich tatsächlich an die Pogues-Konzerte Ende der Achtziger erinnert. Kann man wirklich nur empfehlen, eine sehr schöne Liveband.
Nachdem man nun schon mehr gute Musik gehört hatte, als bei normalen Konzerten insgesamt, kam dann Frank Turner. Im Prinzip macht der Mann ja Stadionrock, aber im kleinen Rahmen und mit einer dermaßen positiven Ausstrahlung, dass auch ein alter Griesgram wie ich, der immer versucht einen Bogen um Mainstream zu machen, sich dem nicht entziehen kann. Turner spielte sich quer durch seine Platten, zwang die Leute zum Mitsingen und zum Tanzen und so hopste schließlich der ganze Saal. Selten so viele gut gelaunte Menschen auf einem Haufen gesehen, dazu schöne kraftvolle und kluge Musik. Turner spielte knapp zwei Stunden, am Schluß waren sowohl die Band als auch das Publikum am Ende.
Ein schöner Abend (am nächsten Tag taten mir alle Knochen weh).
Dienstag, 12. Januar 2016
Sonic Boom Six
Die Musik, die hier vorgestellt wird, ist ja meistens eher alt. Die Gelegenheiten, bei denen ich auf kontemporäre Musik stoßen könnte, sind leider eher begrenzt. Ich bin allerdings nicht der Meinung, dass die Musik früher besser war, ich tue mir nur leichter, ältere Musik zu erschließen.
Vor ein paar Jahren war ich in Berlin auf einem Levellers-Konzert, als Vorgruppe spielten die mir bis dahin unbekannten Sonic Boom Six aus Manchester. Das Levellers-Publikum war so, wie man es sich für angegraute Folk-Punker eben so vorstellt, Sonic Boom Six war dann für die meisten doch etwas zu viel. Die fünf spielten einen wilden Mix aus Ska, Punk, Metal und irgendwie Hiphop-angehauchten Stilen, die ich noch nicht einmal bezeichnen kann. Die Sängerin, Layla K., ist in einer Kritik mal als Minnie Mouse auf Helium bezeichnet worden, ganz verkehrt ist diese Einschätzung nicht. Verbindend mit den Levellers war wohl vor allem die offen politische Einstellung der Band, musikalisch gab es da kaum Schnittstellen. Das Publikum war dann froh, dass es wieder zu den Levellers schunkeln konnte, ich habe mir dann lieber eine Sonic Boom Six CD gekauft.
Das Ganze ist ein sehr energiegeladener Genre-Mix, der den meisten in der Familie zu viel ist, den ich aber sehr erfrischend finde, und der mir auch ein paar eher neue Stile nahe gebracht hat.
Ein ganz guter Einstieg ist das folgende (ältere) Lied "The rape of punk to come".
Der Titel spielt natürlich auf das bahnbrechende Album der Refused "The shape of punk to come" von 1995 an, dieser Titel war damals aber auch schon eine (eher anmaßende) Anspielung auf Ornette Colemans noch bahner- und brechenderes Freejazz-Album "The shape of jazz to come".
SB 6 können aber auch schönen Ska, wie zum Beispiel hier bei "Northern Skies":
Das folgende Lied, "Karma is a bitch" ist von der bislang letzten CD. Das Video ist eine Freude für jeden, der auf schlechte Kampfszenen, explodierende Motorrollstühle sowie Frauen, die Männer verprügeln, steht.
Definitiv eine Band, mit der man sich näher beschäftigen kann. Jung sind sie halt.
Vor ein paar Jahren war ich in Berlin auf einem Levellers-Konzert, als Vorgruppe spielten die mir bis dahin unbekannten Sonic Boom Six aus Manchester. Das Levellers-Publikum war so, wie man es sich für angegraute Folk-Punker eben so vorstellt, Sonic Boom Six war dann für die meisten doch etwas zu viel. Die fünf spielten einen wilden Mix aus Ska, Punk, Metal und irgendwie Hiphop-angehauchten Stilen, die ich noch nicht einmal bezeichnen kann. Die Sängerin, Layla K., ist in einer Kritik mal als Minnie Mouse auf Helium bezeichnet worden, ganz verkehrt ist diese Einschätzung nicht. Verbindend mit den Levellers war wohl vor allem die offen politische Einstellung der Band, musikalisch gab es da kaum Schnittstellen. Das Publikum war dann froh, dass es wieder zu den Levellers schunkeln konnte, ich habe mir dann lieber eine Sonic Boom Six CD gekauft.
Das Ganze ist ein sehr energiegeladener Genre-Mix, der den meisten in der Familie zu viel ist, den ich aber sehr erfrischend finde, und der mir auch ein paar eher neue Stile nahe gebracht hat.
Ein ganz guter Einstieg ist das folgende (ältere) Lied "The rape of punk to come".
Der Titel spielt natürlich auf das bahnbrechende Album der Refused "The shape of punk to come" von 1995 an, dieser Titel war damals aber auch schon eine (eher anmaßende) Anspielung auf Ornette Colemans noch bahner- und brechenderes Freejazz-Album "The shape of jazz to come".
SB 6 können aber auch schönen Ska, wie zum Beispiel hier bei "Northern Skies":
Das folgende Lied, "Karma is a bitch" ist von der bislang letzten CD. Das Video ist eine Freude für jeden, der auf schlechte Kampfszenen, explodierende Motorrollstühle sowie Frauen, die Männer verprügeln, steht.
Definitiv eine Band, mit der man sich näher beschäftigen kann. Jung sind sie halt.
Mittwoch, 6. Januar 2016
Raketenrucksack
Jetpacks sind ja erst für die Zukunft versprochen, die Magdeburger Peppone haben über den Raketenrucksack aber schon 2013 ein Lied gemacht. Die Band kündigt jetzt die kürzeste Welttour aller Zeiten an und spielt am 22.1. in Wegburg und am 23.1. in Osnabrück. Die ersten fünfzig Besucher bekommen eine schöne limitierte CD gratis dazu.
Ich bin über Torsten von der Bördebehörde auf die Band aufmerksam geworden, hatte mir vor einem Jahr den besagten Raketenrucksack schon einmal angehört und jetzt noch ein bisschen weiter gegraben. Punkaffine Musik mit deutschen Texten, die manchmal an Muff Potter und die Boxhamsters erinnert - was kann man sich mehr wünschen? In Zeiten, wo alle Welt sich an den schlimmsten musikalischen Vorbildern orientiert, ist es schön zu hören, dass es auch anders geht. Die Band wird im März ein neues Album aufnehmen; das will ich mir dann schon einmal vormerken.
Von der letzten LP ist auch das folgende schöne Lied, Gedächtnispogo, eine Erinnerung an die Mixkassette. Man wird die Art, wie Musik produziert und konsumiert wird, nicht mehr ändern können, und vielleicht ist es nur nutzlose Nostalgie, daran zu erinnern, dass es Zeiten gab, in der nicht jedes Musikstück überall zu erhalten war und in der Musik noch an mit Bedacht gestaltete Objekte gebunden war und nicht als Datei durchs Netz geisterte. Peppone sind in dieser Hinsicht etwas aus der Zeit gefallen, aber das macht sie nicht weniger sympathisch. Weitermachen!
Ich bin über Torsten von der Bördebehörde auf die Band aufmerksam geworden, hatte mir vor einem Jahr den besagten Raketenrucksack schon einmal angehört und jetzt noch ein bisschen weiter gegraben. Punkaffine Musik mit deutschen Texten, die manchmal an Muff Potter und die Boxhamsters erinnert - was kann man sich mehr wünschen? In Zeiten, wo alle Welt sich an den schlimmsten musikalischen Vorbildern orientiert, ist es schön zu hören, dass es auch anders geht. Die Band wird im März ein neues Album aufnehmen; das will ich mir dann schon einmal vormerken.
Von der letzten LP ist auch das folgende schöne Lied, Gedächtnispogo, eine Erinnerung an die Mixkassette. Man wird die Art, wie Musik produziert und konsumiert wird, nicht mehr ändern können, und vielleicht ist es nur nutzlose Nostalgie, daran zu erinnern, dass es Zeiten gab, in der nicht jedes Musikstück überall zu erhalten war und in der Musik noch an mit Bedacht gestaltete Objekte gebunden war und nicht als Datei durchs Netz geisterte. Peppone sind in dieser Hinsicht etwas aus der Zeit gefallen, aber das macht sie nicht weniger sympathisch. Weitermachen!
Dienstag, 5. Januar 2016
St. Henry
Henry Rollins war in der Stadt, mit einer Spoken Word-Performance in der Apostel-Paulus-Kirche in Kreuzberg. Herr Rollins war vor über dreißig Jahren mal Sänger von Black Flag, danach mit eigener Band unterwegs, daneben hat er immer schon geschrieben, seit einigen Jahren ist er nur noch als Autor, Schauspieler und Spoken-Word-Artist (ich finde leider kein passendes deutsches Wort) unterwegs. Herr Rollins kam hier im Blog schon einige Male vor; zum einen, weil seine Musik und Einstellung für mich in den Achtzigern sehr prägend war und sein Buch "Get in the Van. On the Road with Black Flag" mich in den Neunzigern sehr beeinflusst hat, zum anderen aber auch, weil es nicht allzu viele Leute der ersten Stunde gibt, die noch einigermaßen vernünftig unterwegs sind.
Rollins hat einige Wandlungen durchlaufen. Am Anfang war er der tough guy, Sänger in einer Band, der überall Feindseligkeit und Gewalt entgegenschlug, die aber auch für Feindseligkeit und Gewalt sorgte, wenn es irgendwann zu friedlich wurde. Mittendrin Rollins, der Zielscheibe für Gewalt aller Art war, aber auch selbst gehörig austeilte. Ikonisch für diese Phase ist das Cover der "Damaged"-LP, Rollins, der blutiger Faust einen Spiegel zerschlägt. Aus diesem Wahnsinn entstand aber neue, spannende Musik, eine Independent-Kultur. Ohne Black Flag, die ununterbrochen durch die letzten Ecken Amerikas tourten, hätte sich diese Szene nicht entwickelt. Nachdem die Band zerbrach, begann Rollins mit anderen Beschäftigungen neben der Musik, nahm Rollen in verschiedenen Filmen an, machte Body Building und schrieb Bücher. Irgendwann, es muss wohl in den letzten zehn Jahren gewesen sein, kam ihm die Feindseligkeit abhanden. Die Wut, die bis dahin bestimmend für sein Schaffen war, ist nicht mehr zu spüren. Wenn man sich die neueren Podcasts und Programme anhört, wird man kaum mehr ein böses Wort über irgendjemand finden. Verachtung für die Menschheit insgesamt, die sich selbst ins Grab bringt, aber, hey, most people are friendly and cool. Rollins hat anscheinend seinen Frieden gefunden und es freut mich für ihn.
Es ist eher ungewohnt, für eine solches Event in eine Kirche zu gehen. Die Apostel-Paulus-Kirche ist groß, es passen einige hundert Leute hinein, gedrängt in die Kirchbänke. Als Kirchgänger überlege ich, ob man bei Rollins auch hinknien muss, die Kniebänke sind zumindest vorhanden. Mir kommt in den Sinn, dass ich tatsächlich zu Punkevents und Sonntagsgottesdienst grundsätzlich das gleiche anziehe, was entweder auf das Fehlen jeglicher Haltung, eine enorme Authentizität oder auf einen vollkommen unterentwickelten Sinn für Mode hindeutet. Da ich allein bin, kann ich mich noch weiter vorne in eine Bank reindrängen. Während ich warte und halb der Unterhaltung meiner unbekannten Nachbarn zuhöre (ging interessant los, war dann aber doch nur Gejammer über den Job, das kann ich selbst besser, da muss ich nirgendwo lauschen), überlege ich, ob der Abend vielleicht in der Kirche ganz richtig angesiedelt ist. Es trifft sich auf jeden Fall eine Gemeinde, die meisten nicht mehr ganz jung, mit genügend Geld, für drei Stunden Erzählungen 30 EUR zu zahlen und in der Lage, schnellem englischem Text über lange Zeit zu folgen. Man trägt Insignien, die zeigen, dass man schon vor dreißig Jahren dazu gehört hat.
Rollins beginnt pünktlich und erzählt zunächst von seinem ersten Berlinbesuch, vor 33 Jahren, als er mit Black Flag im SO 36 auftrat. Es ist ganz interessant, seine Erzählung mit den damaligen Tagebuchaufzeichnungen in "Get in the Van" abzugleichen, ein paar Dinge finden sich wieder, ein paar andere scheinen mit den Jahren hinzugekommen zu sein, Legendenbildung lässt sich halt nicht verhindern. Rollins erzählt, wie er mit vollen Bierdosen beworfen wurde und im SO 36 auf der Bühne niedergeschlagen wurde, die erste Geschichte findet sich im Tagebuch (dort allerdings mit dem Zusatz: I grabbed a mic stand and begged the guy to come and get killed), die zweite nicht, allerdings war es tatsächlich so, dass die Band fast bei jedem Auftritt körperlichen Angriffen ausgesetzt war, so dass im damaligen Tagebuch vielleicht nicht alle berichtenswert erschienen. Rollins erzählt, wie toll er Berlin fand, wie prima Deutschland sei; es ist wirklich auffallend, wie der frühere Meister der Destruktivität jetzt höflich und positiv erscheint. Dem Publikum gefällt das natürlich gut, zum einen freut sich jeder auch über das dämlichste Lob, zum anderen kommt es wegen der alten Geschichten, den Legenden, die es jetzt von jemand, der dabei war, noch einmal erzählt bekommen will. (Hier kann man durchaus noch einmal über den Apostel Paulus, den Patron des Auftrittsorts, nachdenken.)
Danach nimmt das Programm eine andere Wendung. Rollins erzählt davon, wie er sich 1980 zusammen mit Ian McKaye die Motörhead-Platte "Ace of Spades" gekauft hat und beide feststellen mussten, dass diese langhaarigen Hardrocker offenbar härtere und schnellere Musik als die Punkrocker machten. Es folgen Berichte über die Treffen, die Rollins mit Lemmy hatte, offenbar kannten die beiden sich ganz gut. Das Publikum nimmt die Berichte mit freudiger Bewegung auf, jeder mochte Lemmy. Mir kommt der Gedanke (nicht ausschließlich durch Rollins Berichte, die bei aller Bewunderung doch auch ein paar distanzierte Worte enthalten), dass man es mit einer säkularen Wiederkehr der Heiligenlegenden zu tun hat. Man muss sich nur die Nachrufe auf Lemmy durchlesen, der mit seinem Tod endgültig von einem bemerkenswertem Menschen zu einer legendären Gestalt geworden ist, die für viele Leute sinnstiftend wirkt. Man findet in den Erzählungen vielerlei Elemente der Hagiografie, es gibt meist ein Erweckungserlebnis, die Bewährungsproben etc. (Rollins Geschichte ist in dieser Hinsicht noch eindeutiger). Offenbar besteht auch im nicht-religiösen Umfeld ein Bedürfnis nach solchen überlebensgroßen Gestalten (zu dem spill-over zwischen Religion und atheistischer Musikkultur habe ich ja schon einmal etwas geschrieben). Als Katholik kann ich ja kaum was gegen Heiligenverehrung haben, ich glaube aber, dass man mit diesem Kult den Menschen nicht gerecht wird, weil man sie in bestimmte Rollen drängt (aber jeder, wie er will und meint). Nachdem Rollins hier die Erwartungen des Publikums (der Gemeinde?) erst einmal ganz geschickt bedient hat, nimmt der Abend dann doch noch eine andere Wendung. In den nächsten zwei Stunden kommen keine Geschichten mehr, die mit der frühen Punkszene zu tun haben. Rollins weigert sich auch, eine Gemeinde zu haben. Er sagt, "ich glaube nicht an ein Wir. Du, du und du, ihr seid wahrscheinlich coole Leute, mit denen man etwas machen kann; für mich gibt es nur ein Du und Ich mit einzelnen Leuten, kein Wir." Er erzählt dann relativ lange von einem (schlechten) Film, an dem er mitgewirkt hat, Jack Frost, in dem er einen sadistischen Hockeytrainer spielt und wie er, Jahre später, von einem Biker auf diesen Film angesprochen wurde. Danach erzählte er von seiner Reise in den Amazonas-Regenwald, den Erwerb seines Tauchscheines und einem Trip in die Antarktis, hier vor allem über Pinguine, deren Verhalten und deren Geruch. Alles sehr amüsant und kurzweilig (auf englisch keine leichte Kost, da man das Vokabular zu Regenwaldfauna parat haben musste), aber nicht der Stoff, der für Legendenbildung taugt. Einen Teil des Publikums hat er da wohl auch verloren. Rollins nützte den Auftritt allerdings für ein paar Predigereinlagen. Zum einen gab er verschiedene Hinweise für ein erfüllteres Leben (sich eine teure Kopfleuchte kaufen, den Taucherschein machen...), zum anderen hat er den Glauben an die subversive Macht der Musik. Er erzählte, wie er eine Festplatte mit verschiedenster Musik nach Teheran schmuggelte und wie er hofft, dass diese Musik dort die Runde macht. Er erzählte, wie er den Jungschauspielern am Set von Jack Frost auch Musiknachhilfe gegeben hat (dass er die Jungen vor allem mit John Coltrane und Ornette Coleman vertraut gemacht hat, war wohl für die meisten im Raum nicht ganz nachvollziehbar).
Rollins ist sicher bewusst, was das Publikum von ihm erwartet, er bietet auch etwas davon, entzieht sich dann aber der Vereinnahmung. Für diejenigen, die Bedarf an Szene-Heiligen und Aposteln haben, sicher ein Verlust, für mich war es ein interessanter und schöner Abend mit jemand, der sein Unverständnis der Welt nicht mehr hinter Feindseligkeit, sondern höflicher Altersmilde versteckt.
(Dieses wirklich erschreckende Foto hier kam wohl durch die starke Beleuchtung zustande. Ich nehme es mal nicht als Zeichen, dass Rollins hier nur als Lichtgestalt fotografiert werden konnte.)
Rollins hat einige Wandlungen durchlaufen. Am Anfang war er der tough guy, Sänger in einer Band, der überall Feindseligkeit und Gewalt entgegenschlug, die aber auch für Feindseligkeit und Gewalt sorgte, wenn es irgendwann zu friedlich wurde. Mittendrin Rollins, der Zielscheibe für Gewalt aller Art war, aber auch selbst gehörig austeilte. Ikonisch für diese Phase ist das Cover der "Damaged"-LP, Rollins, der blutiger Faust einen Spiegel zerschlägt. Aus diesem Wahnsinn entstand aber neue, spannende Musik, eine Independent-Kultur. Ohne Black Flag, die ununterbrochen durch die letzten Ecken Amerikas tourten, hätte sich diese Szene nicht entwickelt. Nachdem die Band zerbrach, begann Rollins mit anderen Beschäftigungen neben der Musik, nahm Rollen in verschiedenen Filmen an, machte Body Building und schrieb Bücher. Irgendwann, es muss wohl in den letzten zehn Jahren gewesen sein, kam ihm die Feindseligkeit abhanden. Die Wut, die bis dahin bestimmend für sein Schaffen war, ist nicht mehr zu spüren. Wenn man sich die neueren Podcasts und Programme anhört, wird man kaum mehr ein böses Wort über irgendjemand finden. Verachtung für die Menschheit insgesamt, die sich selbst ins Grab bringt, aber, hey, most people are friendly and cool. Rollins hat anscheinend seinen Frieden gefunden und es freut mich für ihn.
Es ist eher ungewohnt, für eine solches Event in eine Kirche zu gehen. Die Apostel-Paulus-Kirche ist groß, es passen einige hundert Leute hinein, gedrängt in die Kirchbänke. Als Kirchgänger überlege ich, ob man bei Rollins auch hinknien muss, die Kniebänke sind zumindest vorhanden. Mir kommt in den Sinn, dass ich tatsächlich zu Punkevents und Sonntagsgottesdienst grundsätzlich das gleiche anziehe, was entweder auf das Fehlen jeglicher Haltung, eine enorme Authentizität oder auf einen vollkommen unterentwickelten Sinn für Mode hindeutet. Da ich allein bin, kann ich mich noch weiter vorne in eine Bank reindrängen. Während ich warte und halb der Unterhaltung meiner unbekannten Nachbarn zuhöre (ging interessant los, war dann aber doch nur Gejammer über den Job, das kann ich selbst besser, da muss ich nirgendwo lauschen), überlege ich, ob der Abend vielleicht in der Kirche ganz richtig angesiedelt ist. Es trifft sich auf jeden Fall eine Gemeinde, die meisten nicht mehr ganz jung, mit genügend Geld, für drei Stunden Erzählungen 30 EUR zu zahlen und in der Lage, schnellem englischem Text über lange Zeit zu folgen. Man trägt Insignien, die zeigen, dass man schon vor dreißig Jahren dazu gehört hat.
Rollins beginnt pünktlich und erzählt zunächst von seinem ersten Berlinbesuch, vor 33 Jahren, als er mit Black Flag im SO 36 auftrat. Es ist ganz interessant, seine Erzählung mit den damaligen Tagebuchaufzeichnungen in "Get in the Van" abzugleichen, ein paar Dinge finden sich wieder, ein paar andere scheinen mit den Jahren hinzugekommen zu sein, Legendenbildung lässt sich halt nicht verhindern. Rollins erzählt, wie er mit vollen Bierdosen beworfen wurde und im SO 36 auf der Bühne niedergeschlagen wurde, die erste Geschichte findet sich im Tagebuch (dort allerdings mit dem Zusatz: I grabbed a mic stand and begged the guy to come and get killed), die zweite nicht, allerdings war es tatsächlich so, dass die Band fast bei jedem Auftritt körperlichen Angriffen ausgesetzt war, so dass im damaligen Tagebuch vielleicht nicht alle berichtenswert erschienen. Rollins erzählt, wie toll er Berlin fand, wie prima Deutschland sei; es ist wirklich auffallend, wie der frühere Meister der Destruktivität jetzt höflich und positiv erscheint. Dem Publikum gefällt das natürlich gut, zum einen freut sich jeder auch über das dämlichste Lob, zum anderen kommt es wegen der alten Geschichten, den Legenden, die es jetzt von jemand, der dabei war, noch einmal erzählt bekommen will. (Hier kann man durchaus noch einmal über den Apostel Paulus, den Patron des Auftrittsorts, nachdenken.)
Danach nimmt das Programm eine andere Wendung. Rollins erzählt davon, wie er sich 1980 zusammen mit Ian McKaye die Motörhead-Platte "Ace of Spades" gekauft hat und beide feststellen mussten, dass diese langhaarigen Hardrocker offenbar härtere und schnellere Musik als die Punkrocker machten. Es folgen Berichte über die Treffen, die Rollins mit Lemmy hatte, offenbar kannten die beiden sich ganz gut. Das Publikum nimmt die Berichte mit freudiger Bewegung auf, jeder mochte Lemmy. Mir kommt der Gedanke (nicht ausschließlich durch Rollins Berichte, die bei aller Bewunderung doch auch ein paar distanzierte Worte enthalten), dass man es mit einer säkularen Wiederkehr der Heiligenlegenden zu tun hat. Man muss sich nur die Nachrufe auf Lemmy durchlesen, der mit seinem Tod endgültig von einem bemerkenswertem Menschen zu einer legendären Gestalt geworden ist, die für viele Leute sinnstiftend wirkt. Man findet in den Erzählungen vielerlei Elemente der Hagiografie, es gibt meist ein Erweckungserlebnis, die Bewährungsproben etc. (Rollins Geschichte ist in dieser Hinsicht noch eindeutiger). Offenbar besteht auch im nicht-religiösen Umfeld ein Bedürfnis nach solchen überlebensgroßen Gestalten (zu dem spill-over zwischen Religion und atheistischer Musikkultur habe ich ja schon einmal etwas geschrieben). Als Katholik kann ich ja kaum was gegen Heiligenverehrung haben, ich glaube aber, dass man mit diesem Kult den Menschen nicht gerecht wird, weil man sie in bestimmte Rollen drängt (aber jeder, wie er will und meint). Nachdem Rollins hier die Erwartungen des Publikums (der Gemeinde?) erst einmal ganz geschickt bedient hat, nimmt der Abend dann doch noch eine andere Wendung. In den nächsten zwei Stunden kommen keine Geschichten mehr, die mit der frühen Punkszene zu tun haben. Rollins weigert sich auch, eine Gemeinde zu haben. Er sagt, "ich glaube nicht an ein Wir. Du, du und du, ihr seid wahrscheinlich coole Leute, mit denen man etwas machen kann; für mich gibt es nur ein Du und Ich mit einzelnen Leuten, kein Wir." Er erzählt dann relativ lange von einem (schlechten) Film, an dem er mitgewirkt hat, Jack Frost, in dem er einen sadistischen Hockeytrainer spielt und wie er, Jahre später, von einem Biker auf diesen Film angesprochen wurde. Danach erzählte er von seiner Reise in den Amazonas-Regenwald, den Erwerb seines Tauchscheines und einem Trip in die Antarktis, hier vor allem über Pinguine, deren Verhalten und deren Geruch. Alles sehr amüsant und kurzweilig (auf englisch keine leichte Kost, da man das Vokabular zu Regenwaldfauna parat haben musste), aber nicht der Stoff, der für Legendenbildung taugt. Einen Teil des Publikums hat er da wohl auch verloren. Rollins nützte den Auftritt allerdings für ein paar Predigereinlagen. Zum einen gab er verschiedene Hinweise für ein erfüllteres Leben (sich eine teure Kopfleuchte kaufen, den Taucherschein machen...), zum anderen hat er den Glauben an die subversive Macht der Musik. Er erzählte, wie er eine Festplatte mit verschiedenster Musik nach Teheran schmuggelte und wie er hofft, dass diese Musik dort die Runde macht. Er erzählte, wie er den Jungschauspielern am Set von Jack Frost auch Musiknachhilfe gegeben hat (dass er die Jungen vor allem mit John Coltrane und Ornette Coleman vertraut gemacht hat, war wohl für die meisten im Raum nicht ganz nachvollziehbar).
Rollins ist sicher bewusst, was das Publikum von ihm erwartet, er bietet auch etwas davon, entzieht sich dann aber der Vereinnahmung. Für diejenigen, die Bedarf an Szene-Heiligen und Aposteln haben, sicher ein Verlust, für mich war es ein interessanter und schöner Abend mit jemand, der sein Unverständnis der Welt nicht mehr hinter Feindseligkeit, sondern höflicher Altersmilde versteckt.
(Dieses wirklich erschreckende Foto hier kam wohl durch die starke Beleuchtung zustande. Ich nehme es mal nicht als Zeichen, dass Rollins hier nur als Lichtgestalt fotografiert werden konnte.)
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