"In the absence of intimidation, creativity will flourish"
G.Ginn

Freitag, 6. Juni 2014

Fade Fehden um den Weltkrieg

So hieß der Untertitel einer Schrift, die der Berliner Literat Alfred Kerr 1928 ankündigte, dann aber (aus gutem Grund) nie veröffentlichte. So könnte man auch einen (wenig beachteten) Feuilletonstreit des Jahres 2014 betiteln, wenn man "fade" durch "blöde" ersetzt.

Aber der Reihe nach.
(Was jetzt folgt ist eine unbefugte literarische Betrachtung, zu der ich mich durch merkwürdige Zeitungsartikel gezwungen fühle. Muss ja keiner lesen).

Alfred Kerr war Anfang des letzten Jahrhunderts ein einflußreicher Theaterkritiker und Feuilletonist in Berlin. Schon im Kaiserreich legte er sich mit dem Berliner Polizeichef an; als Hitler an die Macht kam, wurden seine Bücher verbrannt und er musste emigrieren. Preise für Literaturkritik und für junge Schauspieler sind nach ihm benannt.

Gerhard Henschel hat vor einigen Wochen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung* einen Artikel über das Wirken von Kerr im ersten Weltkrieg veröffentlicht. Er weist dabei darauf hin, dass Kerr (zusammen mit anderen) unter dem Namen Gottlieb verschiedene patriotische Gedichte in der Zeitung "Der Tag" veröffentlicht hatte. Gottlieb lieferte Kriegsgedichte als Massenware, Kerr steuerte u.a. 1916 das Rumänenlied bei, das u.a. die Zeilen "Gebrüllescu voll Triumphul/Mitten im Korruptul-Sumpful/In der Hauptstadt Bukurescht/wo sich kainer Fiße wäscht" enthielt. Karl Kraus druckte das Gedicht 1916 in seiner Zeitschrift "Die Fackel" nach und schrieb dazu eine kurze Erläuterung, die mit den kaum übertreffbaren Worten beginnt: "Hinter dem Pseudonym verbirgt sich mit Recht Herr Alfred Kerr. In seiner Prosa zu sprechen: Solche Dinge werden einmal ... in Deutschland möglich gewesen sein, ecco." Kraus und Kerr waren schon Anfangs des 20. Jahrhunderts heftig aneinander geraten. Mit seiner Kritik weist Kraus schon darauf hin, dass Kerr später von seinen nationalistischen Ausfällen nichts mehr wissen wollen wird. Kerr weiß es eigentlich auch jetzt schon besser und verdient sich trotzdem mit patriotischen Mist ein bisschen Geld dazu.

Kerr können noch weitere Gottlieb-Gedichte zugeordnet werden, die drastischer sind. So wird er in einem Gedicht zu Rußland noch deutlicher: "Peitscht sie weg! Zarendreck, Barbarendreck!"  (die Mischung aus verschnörkelter Sprache und dämlichen patriotischen Inhalten ist Kerr eigentümlich; für einige stellt das sicher einen besonderen Reiz dar). Kraus erinnerte in seiner Zeitschrift "Die Fackel" auch nach dem Krieg wiederholt an das Kriegswirken Kerrs, der davon allerdings in den Zwanziger Jahren nichts mehr wissen wollte. Kraus und Kerr prozessierten Ende der 20er Jahre in Berlin wegen der Angelegenheit mehrfach, beide fühlten sich verleumdet oder beleidigt, die Sache wurde verglichen.

Henschel beschreibt in seinem FAS-Artikel nicht nur die Gedichte, sondern geht auch auf die Argumentation der Parteien in den nachfolgenden Prozessen ein und stellt in seinem FAS-Artikel dann die Frage, ob man angesichts dieser Sachverhalte noch Kerr-Preise verleihen bzw. annehmen sollte. Da sowohl die Gedichte als auch der darauf folgende Streit schon fast 90 Jahre bekannt sind, könnte man zunächst zweifeln, ob diese Diskussion jetzt noch notwendig ist.

Ich habe den ganzen Kram vor vielen Jahren gelesen, hielt die Haltung von Kerr nicht für sonderlich sympathisch (vorsichtig gesagt), aber hatte auch nicht den Eindruck, dass man hier jetzt irgendetwas umbenennen müsste. Zumindest bis ich dann so las, was anderswo zu diesem Thema geschrieben wurde.

Im Tagesspiegel zum Beispiel vertritt Peter von Becker die Gegenposition zu Gerhard Henschel. Die Argumente, kurz zusammengefasst:

1. Kerr habe schon 1914 das große Schlachten verdammt, als fast noch alle anderen kriegsberauscht waren. Das stimmt zwar, allerdings sind ja die fraglichen Gedichte nicht vom "Sommer 1914", wie von Becker meint, sondern von 1916. Kerr hat im Krieg parallel zwei Gesinnungen gehabt, das war ja auch ein Hauptkritikpunkt. (Ich habe mir zur Vorbereitung noch einmal die zwei Bändchen Kerr, die auch bei mir im Regal stehen, vorgenommen. Lustigerweise schreibt er in einer Polemik gegen einen anderen Publizisten und dessen Haltung im Weltkrieg: " Fünf Meinungen äußern, untereinander entgegengesetzt. Dann eine davon zitieren als 'damals gleich gesagt'.")

2. Kerr habe seine Verse nie geleugnet und sich mit ihnen auseinandergesetzt. Die Prozesse 1928 wurden aber gerade deswegen geführt, weil Kerr sich dadurch verleumdet fühlte, mit den Gedichten in Verbindung gebracht werden. Im Prozess sah die Auseinandersetzung so aus, dass er vortrug, er habe im Weltkrieg patriotische Gedichte gemacht, während sein Gegner - Kraus - zur selben Zeit deutschfeindliche, landesverräterische Kriegsgedichte gemacht habe. In den Schriftsätzen führt er zu seiner Verteidigung aus, Kraus habe ein deutschfeindliches Hetzgedicht im Dezember 1917 und somit im Krieg, öffentlich vorgetragen. Aber Kraus halte ihm nunmehr ein paar "gegen die uns überfallenden Rumänen gerichteten Verse" jahrelang höhnisch vor. Darin kann man sicher eine Auseinandersetzung mit den Kriegsgedichten sehen, allerdings keine, die einem den Autor 1928 sonderlich sympathisch machen würde. Natürlich war das auch 1928 nicht die eigentliche Gesinnung von Herrn Kerr, sondern eher der Versuch bei den deutschnationalen Berliner Gerichten zu punkten.

3. 1914 seien eben viele Künstler patriotisch beflügelt gewesen.  Auch richtig, aber das Problem mit Kerr wäre ja weniger seine Begeisterung für den Krieg 1914 (die er zeitgleich durch andere Aufsätze kontrastierte, die eher friedensbewegt waren), sondern die wirklich schäbige Art, 1928 mit den Vorwürfen umzugehen. In eine Richtung deutschnational, in die andere pazifistisch -  das scheint nicht sonderlich charakterstark. Wenn man's so macht wie von Becker, muss man sich mit solchen Argumenten aber nicht auseinander setzen, weil man sich eben den Sachverhalt einfacher schnitzt.

4. Kraus hat selbst 1914 den Kriegserlass von Kaiser Franz-Joseph sehr bejubelt. Nun sind die Polemiken von Kraus gegen Kerr auch für Kraus-Fanboys nicht unbedingt angenehm zu lesen, dieser Einwurf ist aber so dämlich, dass es schmerzt, es in einem deutschen Feuilleton zu lesen. Zur Strafe müsste der Verfasser der Verteidigung von Kerr sich den Aufsatz "In dieser großen Zeit", der die "Bejublung" des Kriegserlasses enthält, 50 Mal durchlesen und dann ein Feuilleton darüber schreiben, warum diese Zeilen, um die es geht, vielleicht nicht ganz mit rassistischen Verslein von Kerr zu vergleichen sind: "Über jenem erhabenen Anschlag, jenem Gedicht, das die tatenvolle Zeit eingeleitet, dem einzigen Gedicht, das sie bis nun hervorgebracht hat, über dem menschlichsten Anschlag, den die Straße unserm Auge widerfahren lassen konnte, hängt der Kopf eines Varietékomikers, überlebensgroß. Daneben aber schändet ein Gummiabsatzerzeuger das Mysterium der Schöpfung, indem er von einem strampelnden Säugling aussagt, so, mit dem Erzeugnis seiner, ausgerechnet seiner Marke, sollte der Mensch auf die Welt kommen. Wenn ich nun der Meinung bin, daß der Mensch, da die Dinge so liegen, lieber gar nicht auf die Welt kommen sollte, so bin ich ein Sonderling. Wenn ich jedoch behaupte, daß der Mensch unter solchen Umständen künftig überhaupt nicht mehr auf die Welt kommen wird und daß späterhin vielleicht noch die Stiefelabsätze auf die Welt kommen werden, aber ohne den dazugehörigen Menschen, weil er mit der eigenen Entwicklung nicht Schritt halten konnte und als das letzte Hindernis seines Fortschritts zurückgeblieben ist – wenn ich so etwas behaupte, bin ich ein Narr, der von einem Symptom gleich auf den ganzen Zustand schließt, von der Beule auf die Pest. "
Noch dümmer ist ein Leserbriefschreiber in der FAS (die Zeitung liegt schon im Altpapier, es war irgendjemand von der Kerr-Stiftung), der darauf hinweist, dass Krausens Bücher ja von den Nazis nicht verbrannt wurden (Kerrs schon) und Kraus 1933 nur geschrieben habe "Mir fällt zu Hitler nichts ein", während Kerr ein Kämpfer gewesen sei. (Hier muss ich kurz in meinen Schreibtisch beißen). "Mir fällt zu Hitler nichts ein" ist der erste Satz der mehrere hundert Seiten umfassenden "Dritten Walpurgisnacht", die alles andere als unkämpferisch ist. Aber das muss man als Feuilletonist vielleicht auch nicht wissen.

(Nachbemerkung: Mir hier den Ärger herunter zu schreiben war etwas zeitaufwendig, weil ich mir erstmal wieder die Ausgabe der Fackel herauskramen musste, in der Kraus die Schriftsätze des Prozesses veröffentlicht hat sowie die zwei Bändchen Kerr, die bei mir auch rumstehen, noch einmal in Augenschein nehmen musste. Ich hatte außerdem die vage und vollkommen falsche Erinnerung, dass in der Weltbühne irgendetwas dazu stand. Da das Register der Weltbühne nicht so dolle ist (genau wie das Register dieser Tucholsky Werksausgabe, die ich habe), habe ich so aber viele Stunden mit interessanten Artikeln aus dem letzten Jahrhundert verbracht.)

*Soweit ich sehe, leider nicht online verfügbar.

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