In meiner Jugend bin ich eigentlich nie mit Jazz in Berührung gekommen. Irgendetwas wurde einem dazu im Musikunterricht vorgespielt und im Fernsehen gab es Dixieland- oder Big Band-Jazz, also nichts, was einen Halbwüchsigen interessieren oder begeistern könnte. Gängig waren die Vorurteile, Jazz sei das, was nur schrecklich und schräg klänge oder wo die Musiker gar nicht spielen könnten.
Meine musikalische Sozialisation, die von den Beatles zu Punk führte, war da auch zunächst nicht hilfreich. Anfang der Achtziger war Punk eine (musikalisch) stockkonservative Angelegenheit. Man hatte erlebt, wie von den ersten Anfängen irgendwann nur noch kommerzieller New Wave oder Rock übrig blieb, deswegen wachte man jetzt argwöhnisch darüber, dass die Musik und die Themen gleichbleibend stupide und hart blieben, um jeden "Kommerz" zu vermeiden. Das Ganze führte dann später nur dazu, dass die Szene immer näher zum Heavy Metal, einer genauso stockkonservativen Musikrichtung, geführt wurde, der allerdings alles Spontane und Interessante, was man bei Punkmusik immer wieder mal finden konnte, komplett abgeht. Aber ich schweife ab, das kam erst später.
In der Mitte der Achtziger entwickelte sich allerdings in den USA im Umkreis der Band Black Flag eine Szene, die zumindest bei mir als weitere Vertreter der "lauter, schneller, härter"-Fraktion ankamen (das fand ich damals auch gut und richtig). Im Laufe der Zeit zeigte sich jedoch, dass die wesentlichen Bands, Black Flag, Minutemen, Hüsker Dü, Saccharine Trust und Meat Puppets alles andere als eine puristische Auffassung von Punk-Musik hatten. Es wurden alle Genres einverleibt, von Folk, Free Jazz zu Country und Funk. Die Meat Puppets schafften es sogar, vor ihren Konzerten dem Publikum als Einstimmung "Ascension" von John Coltrane vorzuspielen, Free Jazz, der nahezu jedes Auditorium zum Wahnsinn treiben würde. Das vom Black Flag-Gitarristen betriebene SST-Label war Motor dieser Bewegung, die Veröffentlichungen bestanden am Schluss zu einem großen Teil aus Platten von Nachwuchs-Folkbarden und obskuren Altjazzern. Das - und verschiedene andere unglückliche Umstände - führten dann schließlich zur Insolvenz und zum Zusammenbruch. Viel von dem, was damals vorbereitet wurde, gehört jetzt zum Mainstream. Die Ernte konnten dann andere Bands einfahren.
Auch ich habe - quasi heimtückisch und unbemerkt - mit der Musik nach und nach neue Einflüsse kennen gelernt. Bestürzt musste man feststellen, dass man geglaubt hatte, echten und reinen Punk zu bekommen, und dabei wurde man subversiv auf Grateful Dead oder schlimmeres vorbereitet. Auf diese Art bekam ich - undercover - auch die eine oder andere Dosis Jazz ab, so richtig geheuer war mir das alles aber trotzdem nicht. Eine der letzten Black Flag-Platten, "The Process of Weeding Out" bestand nur aus Instrumental-Improvisationen einer Gitarre, die einem immer zu spät oder zu früh oder einen Ton zu hoch oder zu niedrig schien. Ich hörte mir das ein, zwei Mal an und stellte die LP in den Plattenschrank zurück, ratlos.
Ich war damals gerade im Zivildienst, wo ich mich vor allem mit Gärtnern beschäftigen durfte (Näheres dazu gibt's hier). Im Sommer verbrachte ich ganze Tage allein auf den Wiesen um das Gras, das mit dem Rasentraktor gemäht worden war, zusammenzurechen und mit einem kleinen Wägelchen zum Kompost zu fahren. Das waren Tage, wo man kaum zwei Worte sprach, die Kollegen waren ohnehin nicht sonderlich redselig. Während der einfachen und eintönigen Tätigkeit purzelten die Gedanken durch den Kopf, die Tätigkeit war rein mechanisch und losgelöst von allem Denken. Oft hörte ich in Gedanken Musik, leider auch nur bedingt willentlich beeinflussbar, ich erinnere mich, wie an einem Tag in meinem Kopf immer und immer wieder "When I'm Sixty-Four" von den Beatles lief, Ton für Ton genau, immer wieder von vorne. An einem dieser Tage, schwül und sonnig, zog ich den Rechen durch das Gras und in meinem Kopf begann wieder ein Lied, zu meinem Erstaunen war es "Southern Rise", eines der sperrigsten Lieder der "Process of Weeding Out". Ich hatte das Lied bewusst vielleicht zwei Mal gehört und hatte diese herumirrende atonale Gitarre anscheinend doch vollkommen Ton für Ton in meinem Kopf gespeichert. Das allein fand ich schon erstaunlich. Während dieses Lied so langsam durch meinen Kopf zog, merkte ich allerdings auch, dass all das, was mir bis dahin als atonal oder falsch gespielt vorgekommen war, in diesem Stück genau so sein musste, ja, gar nicht anders sein konnte. Zum ersten Mal hatte ich begriffen, was Jazz war.
Da mich meine bisherigen Musikvorlieben damit im Wesentlichen auf Free Jazz vorbereitet hatten, machte ich den umgekehrten Weg wie die meisten Musikliebhaber. Ich wühlte mich durch den gesamten John Coltrane, brauchte dann einige Zeit, um die Schönheit des Be Bop und die Heiterkeit eines Charlie Parkers schätzen zu können und konnte mich dann erst zum Schluss an New Orleans- und Dixieland-Jazz gewöhnen, die mir durch dumme Knoff hoff-Show-Erinnerungen vergiftet waren.
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