"In the absence of intimidation, creativity will flourish"
G.Ginn

Donnerstag, 1. Mai 2014

Stumpfheit oder postmoderne Ironie

Manchmal nicht leicht zu entscheiden. Die Frage, wie bestimmte Lieder zu verstehen zu sind, war ja schon verschiedentlich Thema hier. Gerne macht man ja allgemein den Fehler, dass bestimmte Aussagen oder Haltungen in Songtexten eins zu eins dem Interpreten zugeordnet werden. In dieser Allgemeinheit ist das etwa so, wie in den Berichten von den ersten Aufführungen der "Räuber" vor dörflichem Publikum, bei denen die Besucher nach der  Vorstellung dem Darsteller des Franz Moor auflauerten, um diesem bösen Menschen eine Abreibung zu erteilen. Inzwischen ist das aber eine durchaus verbreitete Haltung, zumindest was die Bewertung von Musiktexten betrifft.

Sicherlich muss man hier zwischen Propaganda-Musik, die deutliche Botschaften formuliert und auch transportieren will, und anderer unterscheiden. Aber auch hier wird es dann manchmal schwierig. Nehmen wir ein Beispiel aus den späten 60er Jahren. Merle Haggard, ein eigentlich ganz passabler Countrysänger, nahm das Stück "Okie from Muskogee" auf. Schon der Titel weist auf einen Hillbilly aus Ohio hin, der Text ließ insoweit auch wenig zu wünschen übrig. Er beschreibt, dass man in Muskogee keine Drogen nimmt, nichts von freier Liebe (sondern lieber Händchen) hält, nicht gegen den Vietnamkrieg protestiert, die Haare kurz trägt und Cowboy-Stiefel für bessere Fußbekleidung als Sandalen hält. Autoritäten werden noch respektiert. Im Refrain wird gesungen, dass man stolz darauf sei, Okie von Muskogee zu sein. Ironische Brechung oder Distanzierung ist nicht zu finden; das Lied wurde schnell ein Hit, man kann annehmen, dass viele hier endlich eine Stimme in der Musik fanden, die sich ansonsten wenig vertreten vorkamen. Damit könnte man die Betrachtung beenden, in Deutschland hatte Freddy Quinn ein paar Jahre vorher einen ähnlich gruseligen Hit, der "Wir" hieß, und der noch mehr als das amerikanische Beispiel voll unterschwelliger Aggressivität gegenüber einer Jugend, die man nicht mehr versteht, und voll beleidigter Leberwurstigkeit ist (hab's mir gerade noch einmal angehört, wirklich kaum zu ertragen; zu dem Lied gibt es hier ein paar Hintergrundinformationen und eine schöne Interpretation.)

Wenn man sich allerdings ansieht, wer Okie relativ bald ins Repertoire aufgenommen hat, kommt man etwas ins Grübeln. Es gibt z.B. eine gemeinsame Liveaufnahme der Beach Boys und von Grateful Dead, in der beide Bands das Lied spielen (für den, der sich mit den Werken beider Bands vertraut machen will, ist das sicher ein denkbar ungeeignetes Lied).
 Man kann sich kaum vorstellen, dass diese Bands ein Lied singen, dessen erste Zeilen: We don't smoke marijuana in Muskogee; We don't take our trips on LSD lauteten. Hier wird das Lied offensichtlich als Hillbilly-Satire gesehen und vom Publikum auch so verstanden.* Dasselbe Lied, das von allen Rednecks begeistert als Positionsbestimmung mitgesungen wird. Wie Merle Haggard das verstanden haben wollte, ist nicht so recht klar, es gibt zum einen die Aussage, dass er mit dem Lied die amerikanischen Truppen unterstützen wollte, zum anderen, dass er bekifft war, als er's geschrieben hatte. Da kann sich's jede Seite heraussuchen.

Es bleibt also der Befund, dass man hier ein Lied hat, das identisch gespielt vom einen Publikum als ernsthaft, vom anderen als Satire angesehen wird. Der Text selbst lässt somit keine Rückschlüsse auf die Haltung des Sängers zu, die kann man, wenn überhaupt, sich aus dem Kontext zusammensuchen. Vollends verwirrend wird es aber dann, wenn sich beide Auffassungen in einer Aufführung überlappen, so z.B. wenn Willie Nelson dieses Lied zusammen mit Merle Haggard spielt.
Das verstehe dann, wer will. Aber vielleicht ist es auch nur eine Erinnerung daran, dass sich nicht aus jedem Text eine politische Haltung destillieren lässt, dass das sogar weder sinnvoll noch notwendig ist, auch wenn die Öffentlichkeit hier inzwischen keine Ambivalenz mehr dulden will.

*Freddy Quinn wurde dann irgendwann auch von den Toten Hosen gecovered; aus meiner Sicht nicht  ganz zu vergleichen, weil das erst Jahrzehnte später war. Auch der Ansatz der Hosen war hier ein anderer (die Spex hatte damals rezensiert: Ich verstehe den Witz, aber ich goutiere ihn nicht. Wäre auch meine Haltung dazu.)

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