I. Sieg!
Am Tag nach dem Referendum musste auch die Daily Mail erklären, was auf die Briten zukommt; eine für diese Seite eher ungewöhnliche Situation, den Lesern zu offenbaren, dass ein Großteil des Verbraucherschutzes auf EU-Normen beruht. Eher grotesk, wenn die Daily Mail tröstet, zumindest in den nächsten zwei Jahren wird sich ja nichts daran ändern, dass die Roaming-Gebühren im EU-Bereich gedeckelt sind und dass die Notfall-Krankenbehandlung in der EU kostenlos bleibt. Einige Leaver wurden auf einmal besorgt, man hätte ein Haus in der Normandie, in das man nach der Rente ziehen wolle, ob es da Probleme geben könnte...? Nun ja. Aber selbst in der Daily Mail finden die Kommentare, dass man ja auch im UK Urlaub machen könne, wenn es im Ausland teurer werde, wenig Anklang. Das sind aber weitgehend Sorgen einer Mittelschicht, die plötzlich feststellt, dass sie gegen ihre eigenen Interessen Leave gewählt hat; die wirklich Abgehängten haben keine Häuser in der Normandie und machen auch keine Auslandsurlaube.
Interessant ist, dass man nirgendwo konkrete Vorteile des Votums genannt bekommt, es bleibt meist bei dem "Now we take control again" und die Demokratie habe gesiegt. An einigen Stellen wird mitgeteilt, dass man jetzt die Immigrants rauswerfen müsse, je nach Standpunkt, meint man damit die Polen oder die Muslims. Ein Leave-Anführer musste allerdings schon gestern mitteilen, dass sich mit dem Austritt aus der EU an der Immigration in das UK nicht allzu viel ändern werde. Das war zwar schon vorher klar, sorgt aber doch für Aufregung bei den Leavern, die es vorher anders mitgeteilt bekommen haben und natürlich anders verstanden haben. Die Daily Mail hat einen eher schwachen Artikel, welche grotesken EU-Regulierungen man nunmehr abschaffen könnte. Das UK kann in Zukunft dann krumme Gurken und Glühlampen kaufen. Und Staubsauger mit 2000 Watt. Wenn man in den Kommentaren liest, für wie viele ein wesentlicher Grund für die Leave-Stimme war, dass sie wieder ihren blauen UK-Pass haben wollen, sind vielleicht auch die Glühlampen ein Grund zu feiern. Häufig findet man in den Kommentaren auch die Forderung, nun endlich auch aus der Europäischen Konvention für Menschenrechte auszutreten. UKIP kommentierte die Berichterstattung über die Währungsturbulenzen, es habe sich um eine sehr britische Apokalypse gehandelt; zur Teestunde sei sie schon wieder vorbei gewesen. Dass das Pfund nur durch 250 Milliarden Stützung durch die Bank of England wieder auf Spur gebracht werden konnte, lässt man dann kurz unerwähnt.
Das andere Camp fasst derlei Äußerungen gerne mit "Truthähne stimmen für ein frühes Weihnachtsfest" zusammen, nicht ganz zu Unrecht. Zwischen den zwei Lagern gibt es aber keinen Dialog, man hält sich gegenseitig für dumm, arrogant, korrupt. Der Leitartikel der Daily Mail beschäftigt sich mit Nigel Farage, ein Lutz Bachmann-ähnlicher Held der kleinen Leute. Ihm werde Ungebildetheit vorgeworfen, in den Vierziger Jahren wäre er aber einer der Piloten der Royal Air Force gewesen, der England verteidigt hätte, während die liberalen Kritiker höchstens einen Schreibtischjob gehabt hätten, Kriegsdienstverweigerer gewesen wären oder gar Kolloborateure. Und wenn sich jetzt das andere Lager beklage, dass es nicht gehört werde: So ginge es dem kleinen Mann seit 50 Jahren. Die Tories haben sich hier teilweise mit einer Bewegung verbündet, die alle Eliten ablehnt, sei es in Brüssel oder London. Das ist praktisch Pegida, was sich hier äußert. Oder, um ein bisschen weiter zu sehen, Donald Trump.
Nach der Lektüre ist man nicht wirklich schlauer, was die Leave-Bewegung eigentlich erreichen wollte. Man bekommt allerdings einen Eindruck, warum Boris Johnson - der Sieger! - bei seinen ersten Pressestatements erschien wie von Panik geschüttelt. Man hat hier Geister aus der Flasche gelassen, die man so leicht nicht mehr zurück bekommt. Und die Missachtung der Institutionen beschränkt sich nicht auf die Europäischen, sondern gilt für alle politischen Institutionen, auch in Großbritannien. Und der typische Leave-Campaigner hat auch für die Tories wenig Sympathien übrig. Er erwartet allerdings jetzt schnelle Umsetzung und schnelle Verbesserungen. Ich an Boris Johnsons Stelle hätte da auch ein bisschen Panik. Ich nehme an, der Plan war, die Leave-Kampagne immer so um 40 % zu halten, um im parteiinternen Streit Erpressungspotenzial zu haben. Hat ja schön geklappt. Sollte sich jeder CDU/CSU-Politiker genau ansehen, der mit der AFD anbandeln will (Nebenbei: Es ist ja schon häufig angemerkt worden, dass die neuen Populisten - Trump, Johnson, Wilders - merkwürdige Frisuren haben. Wenn Seehofer sich die Haare blond färbte, passte er gut in die Reihe.)
II. Der Plan
Was mich eigentlich noch mehr interessiert, ist welcher Plan hinter der Brexit-Kampagne steht. Wenn man etwas anstößt, was sicher das einschneidendste innenpolitische Ereignis im UK seit vierzig Jahren ist, hat man doch sicher einen Plan (oder zumindest Ziele, die etwas konkreter sind). Bei der Suche bin ich auf einen sehr informativen Bericht eines Parlamentsausschusses gestoßen, der sich mit den wirtschaftlichen Auswirkungen eines Brexits beschäftigt. Die Zahlen beider Seiten werden überprüft und beide Seiten bekommen ein paar Ohrfeigen. Der Bericht ist sicher informativer als das meiste, was man jetzt danach lesen kann. (Die Befragung von Boris Johnson zu den Verboten, Teebeutel zu recyclen oder Luftballons von unter 8jährigen aufblasen zu lassen, ist absurdes Theater). Faszinierender ist das separate Protokoll der Befragung des Leave Campaign Manager Dominic Cummings. Ich glaube, dass niemand - unabhängig von der Ansicht, die er in dieser Angelegenheit hat - dieses Protokoll lesen kann, ohne zu dem Ergebnis zu kommen, dass Herr Cummings ein skrupelloser manipulativer Lügner ist. Das ist nur zu offensichtlich, aber muss Herrn Cummings nicht sonderlich stören, weil ihm klar war, dass es bei der ganzen Geschichte ohnehin nicht um Fakten geht. Man kann hier den neuen und wohl in Zukunft vorherrschenden Typus von Politiker studieren. Zentraler Punkt der Leave-Kampagne waren die 350 Mio. Pfund, die wöchentlich zusätzlich zur Verfügung stünden, wenn man aus der EU austritt. Um die Kampagne für alle Seiten attraktiv zu halten, hat man dieses Geld praktisch allen versprochen. Schade, dass man es nur einmal ausgeben kann, schade auch, dass die tatsächliche Nettosumme weit weniger als 350 Mio. Pfund ist. Wie sich Cummings um diese Fragen herumwindet, ist schon ein Leseerlebnis. Man kann aus der Befragung allerdings ableiten, wie der Plan für die Austrittsverhandlungen aussieht. Überraschung: Es gibt keinen. Cummings beteuert allerdings, dass das UK auch weiterhin an freiem Handel interessiert sei, man aber ohne die korrupte und unfähige EU in der Lage sei, bilateral viel bessere Konditionen zu verhandeln. Interessant ist dabei, dass Cummings an einigen Stellen mitteilt, dass er die britische Ministerialbürokratie für vollkommen unfähig hält, entsprechende Verhandlungen zu führen; schönstes Zitat: "Die sind nicht einmal in der Lage, sich aus einer Papiertüte herauszuverhandeln." (In der Befragung, bei Q.1441) Bilaterale Handelsverträge mit aller Welt neu zu schließen, innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren - das ist kompletter Wahnsinn. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand, der sich mit der Materie beschäftigt, das zeitlich für möglich hält; ich kann mir auch nicht vorstellen, dass irgendjemand davon ausgeht, das UK bekäme bessere Konditionen als die EU. Fantastisch ist auch die Antwort auf die Frage, wie denn der Finanzplatz London gehalten werden soll. Cummings muss zugeben, dass es außerhalb der EU kein einziges Handelsabkommen gibt, dass auch den Austauch von Finanzdienstleistungen in befriedigender Weise regelte. Aber: das wird sich alles finden! Hauptsache, weg vom korrupten Brüssel. Das entspricht etwa der Vorgehensweise, seinen sehr günstigen Mietvertrag zu kündigen, der Familie zu versprechen, dass man natürlich etwas besseres finde und nach der Kündigung zum ersten Mal nachzusehen, wie der Wohnungsmarkt so aussieht. Kann im Einzelfall klappen, wenn man so etwas allerdings mit der sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt macht, ist man vielleicht ein bisschen sorglos. Noch einmal: es gibt für dieses Projekt keinen Plan. Ich bin mir nach der Lektüre nicht einmal sicher, ob es - außer innenpolitische Rankünen - überhaupt ein Ziel gab. Ich nehme an, dass die Leave-Kampagne gerade fieberhaft nach dem nächsten Sündenbock sucht, dem man die zwangsläufige Entwicklung dann in die Schuhe schieben kann - wenn man sieht, wie unversöhnlich sich die Lager im UK gegenüber stehen, bekommt man eine Vorstellung, in welche Richtung das weiter gehen wird. Ich nehme an, dass dann auch wieder genügend Nazi-Angela etc. Rhetorik folgt. Dass die liberalen Medien den Leave-Leuten jetzt dauernd erklären, dass sie blöd, beschränkt und rassistisch sind, wird das Ganze auch nicht besser machen.
So behämmert es klingt, wird der einzige Weg aus dem Schlamassel sein, dass wir den Briten helfen, da wieder einigermaßen mit Anstand rauszukommen. Falls das Leave-Votum umgekehrt wird, gerät aber wohl die britische Innenpolitik dauerhaft außer Kontrolle. Und mit einem solchen Vorgehen legt man auch die Axt an die EU, weil dann die ganzen Wahnsinnigen in den anderen Ländern ähnliche Dinge probieren. Die Briten absaufen zu lassen, kann es aber auch nicht sein.
Ich habe jetzt noch ein paar apokalyptische Absätze gelöscht. Sagen wir es so: Ich mache mir Sorgen.
Ergänzung:
III. Die Apokalypse als Slapstickaufführung
Ein paar Stunden weitergelesen: Im UK sind die führenden Protagonisten der Leave-Kampagne abgetaucht. Es gibt im Moment anscheinend niemand, der den Volkswillen ausführen will; kein Wunder, da das Ganze (wie oben dargestellt) eine sehr schlechte Idee ist und es mit jedem Tag deutlicher wird. Meine Prognose: Die Tories werden sich um den Austrittsantrag drücken, unter irgendeinem bescheuerten Vorwand. Die EU wird - gezwungen von Angela Merkel - das Spiel mitmachen. Im Grunde vernünftig. Alle Leave-Aktivisten werden aber feststellen, dass die Brüsseler Eliten anscheinend auf demokratischem Weg nicht besiegt werden können.
Nicht grad Apokalypse, aber Probleme genug! Aber wir können ja alle nicht in die Zukunft sehen und sind nicht verpflichtet, uns die schwärzesten Alternativen auszumalen.
AntwortenLöschenDanke für diese Zusammenfassung, leider reicht mein Englisch nicht zu Orginal- Studien.
Ganz so schwarz wird es nicht werden, aber nachzuvollziehen ist das alles nicht mehr...
LöschenDanke für die Analyse! Ich glaube, dass die Tories das Spiel mit dem Feuer unterschätzt haben. Die Eliten in Politik und Wirtschaft, insbesondere die City of London, haben kein Interesse an einem echten Brexit. Und auch die Wahlergebnisse nach Schichten sprechen eine deutliche Sprache: in erster Linie hat die Unterschicht für Leave gestimmt - nicht die Zielgruppe der Tories. Ich glaube inzwischen, dass die Sache wie nach der Abstimmung in Griechenland 2015 läuft: Die Regierung und das Parlament werden den Beschluss nicht umsetzen bzw. endlos verzögern, bis sich die Angelegenheit in Wohlgefallen aufgelöst haben wird.
AntwortenLöschenAlso, Kopf hoch! Alles halb so wild. Ackerman und Monsoon Boy haben schon ganz andere Geschichten überstanden.
Der Unterschied: Ich hatte großen Respekt vor dem griechischem Referendum. Bei den Briten ist auch mit viel Mühe kein legitimer Ansatz zu erkennen. Aber willkommen in der Zeit der Post factual politic!
LöschenDu nimmst die Dinge aufgrund deiner Ausbildung zu wörtlich und zu genau ;o)
LöschenIch sehe sie als Politikwissenschaftler immer als etwas Fließendes und Formbares. Man muss in der Politik immer beweglich bleiben. Verträge und Voten ... - denk mal an die Maastricht-Kriterien für die Staatsverschuldung uswusf.
Man kann halt nicht aus seiner Haut...
LöschenDANKE für´s Zusammenfassen !!!
AntwortenLöschen+ DAS, kam bei mir an:
Das UK kann in Zukunft dann krumme Gurken und Glühlampen kaufen.
Es gibt für dieses Projekt keinen Plan.
Ich mache mir Sorgen.
+ recht haste ...
https://www.youtube.com/watch?v=fCvJvEqe7G0
*♥don´tWORRYbeHAPPY*
daß sich nach einer gewonnenen politischen kampagne herausstellt, daß die sieger (befürworter oder wie auch immer)keinerlei plan haben wies weitergehen soll, geschweigeden sich gedanken drüber gemacht haben wie man die angestrebten ziele auch nur im ansatz verwirklichen kann halte ich nicht für überraschend. bei kleineren dingen haben wir das alle schon mal kopfschüttelnd zur kenntnis genommen. aber bei einer entscheidung von solcher tragweite die wahrscheinlich jeden briten in irgendeinerweise betrifft, dachte ich schon, daß irgendeine strategie oder ein plan oder was auch immer dahintersteht. aber wohl fehlanzeige, so wie die herren zurückrudern, oder ganz von der bildfläche verschwunden sind. das finde ich wirklich beunruhigend, weil über den ansatz: wir treten aus der eu aus und machen dann dies und jenes kann man ja reden. aber so? da mach ich mir tatsächlich auch sorgen.
AntwortenLöschengrüße
michali
Hochinteressante Ausführungen!
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