Eines der Bücher, die ich schon seit Monaten hier besprechen will, und bei denen es mir furchtbar schwer fällt. Wolfgang Herrndorfs "Arbeit und Struktur" beschreibt tagebuchartig das Leben des Autors von der Diagnose Hirntumor im März 2010 bis zu seinem Tod im September 2013.
Zwei Dinge machen es mir schwer, etwas über dieses Buch zu schreiben: Zum einen war Herrndorf zum Zeitpunkt der Diagnose etwa so alt wie ich's jetzt bin, zum anderen spielte sich sein Alltag zu einem großen Teil in den Straßen ab, die ich jeden Tag auf und ab wandere. Die Invalidenstraße kommt vor, er beschreibt das Essen in der Mensa Nord in der Hannoverschen Straße und bei manchen Daten weiß ich, dass ich an dem Tag (wahrscheinlich aber nicht gleichzeitig) auch dort beim Essen war. Damit wird es noch weniger möglich, sich dem Geschehen zu entziehen.
Das Tagebuch beschreibt das Fortschreiten der Krankheit, analytisch, distanziert, obwohl das Geschehen ungeheuerlich ist. Wegen des Hirntumors hat Herrndorf zunächst visuelle Ausfälle, dann motorische, schließlich verliert er Orientierungssinn und hat Schwierigkeiten, Worte zu finden. Während der Krankheit schreibt er den Roman "Tschick", hat damit erstmalig großen Erfolg und weiß, dass er nicht mehr die Zeit hat, diesen Erfolg auszukosten. Er hält sein auseinanderfallendes Leben zusammen mit "Arbeit und Struktur", Bewegung, Schreiben, Lesen. Seine Einträge sind scharfsinnig und witzig, auch wenn die nüchterne Beschreibung des fortschreitenden Verfalls schwer zu ertragen ist. Aber Herrndorf weigert sich, vor der Krankheit zu kapitulieren, so fährt er z.B. weiter Rad, auch wenn er sich kaum noch orientieren kann. Trotz des beschriebenen Kontrollverlust behält er sein Leben in der Hand, bis zuletzt.
Ein schönes Buch über das Leben im Angesicht des Todes (und jenseits von jeder Religion). Und natürlich auch über das Berlin zwischen Novalisstraße und Hohenzollernkanal. Und "Arbeit und Struktur" ist vielleicht die Zauberfomel auch für Leute, die nicht tödlich krank sind.
Ein großartiges Buch. Er hat am Ende am Nordufer gewohnt, vorher in der Novalisstraße. Der "Deichgraf" war seine Stammkneipe, am Nordufer hat er sich auch erschossen. Einer der Menschen, die man gerne kennengelernt hätte ...
AntwortenLöschenhttp://kiezschreiber.blogspot.de/2015/06/wolfgang-herrndorf.html
Das ist offenbar ein Buch, das einen nicht kalt lässt. Deine Hommage zum Todestag hatte ich damals gar nicht gesehen, danke für das Link.
LöschenÄhem, ich hatte das Vergnügen, ihn kennenzulernen, weil ich mit einem seiner Freunde befreundet bin. Das war kurz vor der Diagnose. Ich kaufte mir gleich danach seinen Roman "In Plüschgewittern", aus reiner Neugierde. Fand ich schon ziemlich gut. "Tschick" sowieso. Aber am beeindruckendsten war sein Blog, den ich praktisch "in Echtzeit" mitlas. Mir brach das Herz, auch weil er so unfassbar gut schrieb, und es kein gutes Ende nehmen würde. Wie kann jemand so gut schreiben, der gleichzeitig um sein Leben kämpft, wie schaffte er das nur und ich begriff einfach nicht, dass so ein Talent nicht alt werden sollte. Ein unglaublich beeindruckender und zudem traumschöner Mann.
AntwortenLöschenIch bin beeindruckt (ich erkenne Künstler normalerweise erst, wenn sie mindestens fünfzig Jahre tot sind).
LöschenNun ja, er wurde mir ja vorgestellt :)
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