"In the absence of intimidation, creativity will flourish"
G.Ginn

Samstag, 6. Dezember 2014

Vor 100 Jahren

Am 5. Dezember 1914 erschien die erste Kriegs-Ausgabe der Wiener Zeitschrift "Die Fackel", die Karl Kraus seit 1899 herausgab und zwischenzeitlich praktisch allein schrieb.

Die letzte Vorkriegs-Fackel war am 10. Juli 1914, schon nach der Ermordung Franz Ferdinands erschienen. Neben den üblichen galligen Glossen fand sich dort der Aufsatz "Franz Ferdinand und die Talente", in dem Kraus die Ermordung Franz Ferdinands kulturell in folgendem Sinne deutet: "Keine kleineren Mächte als Fortschritt und Bildung stehen hinter dieser Tat, losgebunden von Gott und sprungbereit gegen die Persönlichkeit, die mit ihrer Fülle den Irrweg der Entwicklung sperrt." Kraus sieht in Franz Ferdinand einen Außenseiter des österreichischen Establishments; in den Glossen der Fackel druckt er auch die Berichte der Trauerfeier, in denen alles andere als eine Staatstrauer, sondern ein Gelage mit Würstel und Bier beschrieben wird, sowie die erste Seite einer Zeitung vom 4. Juli 1914 ab, auf der neben der Behauptung: Die Trauer, die über die Monarchie gebreitet ist, hat mit dem heutigen Tag ihren Höhepunkt erreicht, eine Vielzahl von Varieté und Theater-Annoncen stehen. Schlusspunkt der Entwicklung der Vorkriegs-Fackel, in der sich Kraus in seiner abgrundtiefen Abneigung gegen den liberalen österreichischen Zeitgeist und vor allem die Presse, teilweise reaktionär geriert. Er selbst greift dies in der Satire "Sehnsucht nach aristokratischem Umgang", die als Kontrapunkt zu "Franz Ferdinand und die Talente" am Ende der der Ausgabe vom 10. Juli 1914 steht, selbst auf. Er berichtet über anonyme Zuschriften, die ihm vorwerfen, mit großem Ehrgeiz auf aristokratischen Umgang zu aspirieren. In dem Text findet sich die Erledigung: "Meine radikalen literarischen Freunde, die noch ahnungsloser waren als die feudalen Privatgesellschaften, sind endlich aufmerksam geworden, denn sie können zwar schreiben, aber nicht lesen und haben darum seit fünfzehn Jahren nicht gemerkt, dass ich die Pest weniger hasse als meine radikale literarischen Freunde... (...) Sie haben geglaubt, ich sei ein Revolutionär, und haben nicht gewußt, dass ich politisch noch nicht einmal bei der französischen Revolution angelangt bin, geschweige denn im Zeitalter zwischen 1848 und 1914, und dass ich die Menschheit mit Entziehung der Menschenrechte, das Bürgertum mit Entziehung des Wahlrechts, die Juden mit Entziehung des Telephons, die Journalisten mit Aufhebung der Preßfreiheit und die Psychoanalytiker mit Einführung der Leibeigenschaft regalieren will."

Was hatte Kraus also am 5. Dezember 1914, nach vier Monaten Krieg zu sagen? Das Fackel-Heft ist schmal und enthält nur einen Aufsatz "In dieser großen Zeit". Anders als man vermuten könnte, findet sich unter diesem Titel keine pathosgeschwängerte Kriegsbilanz. Kraus, der Phrasen hasste, machte gleich im ersten Satz die Kriegsphrase "in dieser großen Zeit" zuschanden: "In dieser großen Zeit, die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu die Zeit bleibt;..." Das war's mit Pathos. Es ist nicht unwichtig festzustellen, dass der erste Satz grammatikalisch falsch ist; Komparativ mit "wie" anstatt "als". Das ist natürlich Absicht, das Pathos der "großen Zeit" wird kontrastiert mit der Jargonwendung "kannte ich noch, wie sie so klein war" und damit demaskiert. Der erste Satz enthält auch die düstere Vorahnung kommenden Grauens: "in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muss, was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht.." Er konstatiert die Marktgläubigkeit als Ursache für das Geschehen: "Zivilisation ist die Unterwerfung des Lebenszwecks unter das Lebensmittel. Diesem Ideal dient der Fortschritt und diesem Ideal liefert er seine Waffen. Der Fortschritt lebt, um zu essen, und beweist zu Zeiten, dass er sogar sterben kann, um zu essen." All das Worte, die in der im Winter 1914 herrschenden Kriegsbegeisterung wohl auf wenig Verständnis trafen. Kraus schrieb auch: "Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige!"

Das tat er erst einmal auch; die nächste Fackel erschien erst im Oktober 1915; da hatte sich einiges geändert und die diffus reaktionäre Haltung der Vorkriegsjahre hatte sich in eine klarsichtige Ablehnung des Krieges und der Kriegslügen verwandelt.

(Fortsetzung folgt; ich habe mir mal vorgenommen, die Kriegs-Fackeln jeweils mit 100 Jahren Abstand kurz darzustellen. Ich wollte mich ja eigentlich schon 1999 mit 100 Jahren Abstand durch die ganze Fackel lesen, habe dann aber irgendwann den Anschluss verpasst)


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